Prometheus der Dulder / Imago - Nobelpreis für Literatur 1919 – Buch gebraucht kaufen
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Autor/in:
Zustand:
leichte Gebrauchsspuren
Verlag:
Format:
22,6 x 15,8 x 4,4 cm
Seiten:
378
Gewicht:
800 g
Ort:
Zürich
Einband:
Hardcover/gebunden
Sprache:
Deutsch
Beschreibung:
Carl Spitteler: Prometheus der Dulder
Was wissen wir eigentlich von Carl Spitteler? Teilt dieser große Schweizer Dichter das Schicksal vieler Vertreter der Poesie, daß sie nur von einer kleinen Elite gelesen werden? Bereits während des Ersten Weltkrieges mußte Romain Rolland zu seinem Erstaunen feststellen, daß Spitteler den meisten Deutschen überhaupt nicht bekannt war. Dabei war Rolland, wie er in seinen Tagebüchern Das Gewissen Europas notierte, „höchst verwundert über die Größe seines Geistes und seiner Kunst. Das ist in der Welt der Lebenden die ursprünglichste und kraftvollste Quelle, der ich in der Literatur begegnet bin.“
Dieses Urteil steht in deutlichem Gegensatz zum Bekanntheitsgrad des Dichters. Wenn denn doch einmal sein Name fällt, dann meist nicht im Zusammenhang mit seinen Werken, aus Kenntnis seiner Dichtung; sondern mehr wegen seiner öffentlichen Haltung während des Ersten Weltkrieges. Spitteler hat ein einziges Mal in seinem Leben eine politische Rede gehalten - aber ihre Folgen waren gewaltiger als die Wirkung all seiner Bücher. Es war am 14. Dezember 1914 in Zürich, als er seine Rede „Unser Schweizer Standpunkt“ hielt. In ihr ging es um die Haltung der Schweizer zum Krieg und gegenüber den kriegführenden Mächten. Er verlangte Zurückhaltung im Sinne der Neutralität, warnte vor einer inneren Zerreißprobe durch Parteinahme für oder gegen Frankreich oder Deutschland, fand aber auch klare Worte gegen die deutsche Kriegsführung gegenüber Belgien. Verallgemeinernd stellte er fest: „Die Namen Republik, Demokratie, Freiheit, Duldsamkeit und so weiter, bedeuten diese einem Schweizer etwas Nebensächliches? Es gab eine Zeit - ich habe sie erlebt -, da galten diese Namen in Europa alles. Heute werden sie nahezu als Null behandelt. Alles war zuviel. Null ist zuwenig.“
Spitteler hatte die scharfen, oft bösartigen Reaktionen - insbesondere aus Deutschland - vorausgesehen. Selbst sein erster Anhänger und öffentlicher Verehrer, der Musiker Felix Weingartner (1863-1942), der bereits 1904 eine kleine Arbeit über Spitteler veröffentlicht hatte, wandte sich nun in einem offenen Brief gegen Spitteler. Darin brachte er zum Ausdruck, dass er weiterhin das Werk bewundere, daß jedoch der Verfasser seines Werkes unwürdig sei; nicht er habe es geschrieben, sondern ein Gott, der in ihn gefahren sei, ein deutscher Gott natürlich. Spitteler reagierte darauf humorvoll: Es sei immerhin erstaunlich, dass dieser deutsche Gott nicht in einen Hindenburg gefahren sei, sondern in einen Schweizer, der Französisch, Russisch und Englisch spreche und diese Sprachen schätze.
Selbst die Herren des Nobelpreiskomitees zollten der öffentlichen Meinung in Deutschland Tribut. Als Spitteler 1915 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde, hieß es in der Ablehnung, daß sein politisches Verhalten in Deutschland und Österreich größten Anstoß erregt habe. Es unterliege keinem Zweifel, „daß seine Wahl, solange der Krieg noch andauert, in diesen Ländern ein höchst peinliches Aufsehen erregen und Mißverständnisse vielfältiger Art hervorrufen würde“. Nach Kriegsende hielt man es dann - gerade auch wegen der Neutralität des Schweizers - für angebracht, ihm den Preis zuzuerkennen. So erhielt er denn 1920 den Literaturnobelpreis für das Jahr 1919. Nun konnte man sogar auf eine Begründung aus dem Jahre 1914 zurückgreifen, in der es zu Spitteler hieß: „Der Dichter erhebt sich, sowohl in der Form wie im Inhalt, über die Gegensätze der Zeit, er zeigt sich sozusagen neutral gegenüber all ihren verbitterten und sinnlosen Kämpfen.“
Der Weg Spittelers bis zu dieser Anerkennung war weit. Am 24. April 1845 in Liestal (Schweiz) als Sohn eines Beamten und späteren Unternehmers geboren, war es der Wunsch des Vaters, aus Carl einen gut ausgebildeten Juristen zu machen. Mit dem Schulbesuch in Bern und Basel wurden dafür die Grundlagen gelegt. Vor allem durch seinen Lehrer Jacob Burckhardt am Baseler Pädagogium wurde Spitteler weltanschaulich entscheidend geprägt. In dieser Zeit entstand auch die lebenslange Freundschaft mit Joseph Viktor Widmann (1842-1911), der später selbst als Journalist und Schriftsteller wirkte. Der Briefwechsel der beiden Freunde ist eine der wichtigsten Quellen, um die geistige und künstlerische Entwicklung Spittelers nachvollziehen zu können.
Das Jurastudium, das er 1863 in Basel aufnahm, befriedigte ihn nicht. Es kam zu einer tiefen Krise. In einer fluchtartigen Wanderung gelangte er im Dezember 1864 bis Luzern, wo er sich längere Zeit, getrennt von seiner Familie, aufhielt. 1865 nahm er in Zürich ein Theologiestudium auf, das er 1867 in Heidelberg fortsetzte. Dabei ging es ihm wohl in erster Linie darum, Argumente gegen das Christentum und gegen die Religion überhaupt zu sammeln. Der Einfluß Burckhardts und auch Arthur Schopenhauers hatte aus ihm einen Pessimisten und Anti-Theologen gemacht. So war es nicht verwunderlich, daß sein erster Versuch, das Studium 1869 erfolgreich abzuschließen, scheiterte. Erst nach einem erneuten Studium in Basel gelang ihm dies 1871. Anstatt jedoch als Pfarrer eine ihm zugewiesene Pfarrei zu übernehmen, verließ er die Schweiz, um als Hauslehrer nach Rußland zu gehen.
Erst 1879 kehrte er in die Heimat zurück. Nach dem jahrelangen weltmännischen Leben in Adelsfamilien in Rußland war er enttäuscht vom Klima in der Schweiz. „Was für ein Gegensatz! und welch ein Hohn im Gegensatz! Draußen in der Fremde: offene Arme, warme Aufnahme, gutwillige Duldung seiner Eigentümlichkeit, Nachsicht gegen seine Fehler; hier in der Heimat: engherzige Nörgelei, Unfehlbarkeitsdünkel, Verneinung seiner gesamten Persönlichkeit“, hieß es in dem stark autobiographisch gefärbten Roman Imago über diesen Eindruck.
Er arbeitete als Lehrer in Bern und in Neuveville am Bielersee. 1883 heiratete er Marie Op den Hooff, war als Journalist bei der „Schweizer Grenzpost“ und der „Neuen Zürcher Zeitung“ tätig, bevor er 1892 nach Luzern in das Haus des Schwiegervaters zog. Nunmehr frei von materiellen Sorgen, konnte er sich ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten widmen.
In den folgenden Jahren erfuhr er viele Ehrungen. 1904 wurde ihm gemeinsam mit den späteren Nobelpreisträgern Thomas Mann und Hermann Hesse die Auszeichnung der Bauernfeldstiftung zuteil; 1909 machte ihn die Stadt Luzern zu ihrem Ehrenbürger; 1920 erhielt er neben dem Nobelpreis für das Jahr 1919 auch den Schillerpreis; 1921 wurde er zum Kommandeur der französischen Ehrenlegion ernannt.
Am 29. Dezember 1924 starb der Dichter in Luzern.
Carl Spitteler hatte lange nach seiner tatsächlichen Berufung gesucht. In seinen autobiographischen Erinnerungen gab er den Oktober 1862 als den Wendepunkt seines Lebens an: „Und jäh wie der Blitz, hell wie der Mittag durchfuhr mich ein Gedanke: Das ist's, nicht die Musik, nicht die Malerei, sondern die Poesie. In ihr kannst du deinen Trotz, deinen Grimm, überhaupt alles aussprechen, was dich bedrückt und was du zu sagen hast. Und sie bedingt keine technischen Studien, heischt keine Schule, keinen Unterricht, keine Hilfe, keinen Lehrer. Du bekommst es einzig mit deiner Seele und mit deinem Kunstgewissen zu tun. Und noch etwas, hei Glück! du kannst im stillen und geheimen schaffen, ohne daß irgendein Mensch es ahnt.“
Doch es sollte noch viele Jahre dauern, bis er diese seine Berufung einlösen konnte. Erst 1881 - und auch noch unter dem Pseudonym Carl Felix Tandem - erschien sein erstes Werk Prometheus und Epimetheus. Es blieb weitestgehend unbeachtet, auch wenn sich zum Beispiel Gottfried Keller sehr beeindruckt zeigte. Bekannter wurde Spitteler durch seine journalistischen Arbeiten, die zuerst in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und dann in Sammelbänden wie Literarische Gleichnisse (1892) und Lachende Wahrheiten (1898) erschienen, sowie durch Erzählungen wie Conrad, der Leutnant (1898). Seine Versuche, auf der Bühne Fuß zu fassen, mißlangen total. Die einzige Aufführung eines seiner Stücke gab es mit dem „Parlamentär“ am 1. November 1889 in Basel - und es war ein Reinfall.
Spitteler sah sein eigentliches künstlerisches Anliegen im großen Epos. Sowohl seine Erzählungen als auch seine Gedichte (die Sammlungen Schmetterlinge und Glockenlieder) verstand er als Übungen, „ damit ich zukünftige schwerere und größere Werke in klingende Form fügen kann“.
Der Durchbruch im Schaffen Spittelers kam mit dem Versepos „Olympischer Frühling“, dessen vier Teile (Die Auffahrt; Hera, die Braut; Die hohe Zeit; Ende und Wende) zwischen 1900 und 1905 entstanden. Es geht darin um den Aufstieg der jungen Götter aus dem Hades zum Olymp, um die Auseinandersetzung zwischen Zeus und Apoll um Hera, um viele einzelne Geschichten, die sich um verschiedene Götter wie Apoll, Hermes, Dionysos, Poseidon u. a. ranken; schließlich wird die Hinwendung der Götter zur Menschenwelt in Gestalt des Herakles dargestellt. Bei aller Bezogenheit zu der griechischen Mythologie wird dem Leser schnell klar, daß es eine ganz eigene Welt ist, die Spitteler hier darstellt, und daß nicht Griechenland, sondern seine Schweizer Heimat den Rahmen bildet. In der Verleihungsrede für den Nobelpreis, die Harald Hjärne am 1. Juni 1920 in Stockholm hielt, heißt es dazu: „Hinter Spittelers Mythologie verbirgt sich ein ganz persönlicher innerer Kampf, und sie ist Ausdruck eines Lebensgefühls, das er sich im Laufe seiner eigenen Entwicklung erwarb. Er hat auf diese überlieferte dichterische Form zurückgegriffen, um im Bereich der Phantasie das menschliche Mühen, Hoffen und Verzweifeln widerzuspiegeln und Schicksale in ihrem erbitterten Freiheitskampf gegenüber der herrschenden Gewalt zu zeichnen.“
Eine besondere Stellung unter den Werken des Dichters nimmt sein einziger Roman Imago (1906) ein. Es ist die Liebesgeschichte Spittelers zu seiner Cousine Ellen Vetter-Brodbeck, und es ist zugleich eine differenzierte Darstellung der Beziehung von Kunst und Leben. Imago war für den Dichter nicht nur ein Kunstwerk, es war sein Herzblut: „Für meine Lebensgeschichte, also für meine Biographen wird es das allerwichtigste Dokument sein. Ich erscheine in allen meinen Werken verhüllt und maskiert, hier zeige ich meiner Seele kleinste Faser.“ Nicht zufällig benannte Sigmund Freud 1912 auf Vorschlag von Carl Gustav Jung seine Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften nach dem Roman Imago.
Spittelers Schaffen wird manchmal im Zusammenhang mit Friedrich Nietzsche gesehen. Zwischen beiden gab es eine lose briefliche Beziehung aus der letzten Zeit des Philosophen vor seinem geistigen Zusammenbruch. Spitteler nahm eine im wesentlichen distanzierte Haltung zum Gesamtwerk Nietzsches ein. Erst als die Schwester Nietzsches, Elisabeth Förster-Nietzsche, die Legende entwickelte, Spitteler sei entscheidend von Nietzsche beeinflusst worden, wandte der Dichter sich an die Öffentlichkeit und legte seine Beziehungen zu Nietzsche (1908) dar. Seine weltanschaulichen Grundpositionen blieben zeit seines Lebens von Burckhardt und Schopenhauer bestimmt, wovon nicht nur seine großen Werke, sondern auch seine philosophischen Versuche über die Würde des Menschen (1862) und die Unphilosophischen Gedanken (1910/11) zeugen.
Die wohl größte Wertschätzung fand Spitteler in einer Würdigung, die Romain Rolland zur Unterstützung der Kandidatur für den Nobelpreis an Verner von Heidenstam (1859-1940) in Schweden gesandt hatte. Darin hieß es: „Die großen Dichtungen Spittelers sind für mich während des Krieges eine Entdeckung gewesen, und ich kann sagen, daß sie mir die düsteren Jahre erleuchtet haben. Ich hatte das Gefühl, einer jener mächtigen Künstlerpersönlichkeiten zu begegnen, von denen man bedauernd feststellt, daß sie nur selten hier und da in der Vergangenheit anzutreffen sind. Maler, Dichter und Denker in einem, ist Spitteler einer der letzten großen Schöpfer von Mythen, epischen Legenden, philosophischen Parabeln. Ohne Zweifel ist er der größte Dichter, den die Schweiz jemals gehabt hat. Sie verkörpert sich in ihm mit ihrer absoluten Unabhängigkeit des Denkens, ihrem derben Humor und ihrer robusten Natur ... Ich möchte hinzufügen, daß mir Spittelers Charakter nicht weniger außergewöhnlich erscheint als seine Kunst ... Er war sein ganzes Leben lang frei, allein - und glücklich, dank des Lichtes und der Wärme seiner eigenen inneren Sonne.“
* * *
„Der war kein Narr, sondern er war ein Dulder“, heißt es im Roman Imago über den Helden des Buches. Damit ist die Brücke gebaut zu dem Spätwerk Spittelers, das im Todesjahr des Dichters 1924 unter dem Titel Prometheus der Dulder erschien. Es war einerseits eine Umarbeitung der Dichtung Prometheus und Epimetheus aus den Jahren 1881/82, wie Spitteler es selbst 1923 in einem Vortrag in Zürich erklärte („Warum ich meinen Prometheus umgearbeitet habe“); und es war andererseits eine eigenständige Schöpfung, in der die Lebenserfahrungen und Lebensansichten des Dichters eingeflossen waren.
Das zweiteilige Versepos war in einer vierzehnjährigen Arbeit entstanden. Die äußere Handlung entsprach dem früheren Werk: Prometheus weigert sich gegenüber Gott, seine Seele gegen ein Gewissen einzutauschen, und wird dafür hart bestraft und verbannt. Der Bruder Epimetheus dagegen willigt in diesen Tausch ein und wird zum König ernannt. Doch das Gewissen erweist sich als ein unzureichender Ratgeber: Epimetheus erkennt weder die Gabe, die Pandora den Menschen schenken möchte, noch kann er den ihm anvertrauten Gottessohn vor Behemoth, dem Repräsentanten des Bösen, schützen. Erst der zu Hilfe gerufene Prometheus rettet den Gottessohn, verzichtet jedoch auf irdische Ehren und zieht sich - versöhnt mit seinem Bruder - in die Einsamkeit zurück.
„Es war ein trüber Tag. Kein Hauch, kein Atem ging
Im stummen Nebel, der erstaunt vom Himmel hing“,
lauten die ersten Verszeilen, mit denen „Die Stunde der Versuchung“ eingeleitet wird. In der „Königswahl“ erfolgt einerseits die ausführliche Beschreibung der Einsetzung Epimetheus' als König, andererseits die Auseinandersetzung des Prometheus mit seiner Seele - seine Art von „Königswahl“. Im Kapitel „Der Schöpfer“ singt Spitteler ein Hohelied auf das künstlerische Schaffen, indem er Freud und Leid dieser Arbeit ausmalt. Mit dem „Dulder“ endet der erste Teil des Epos. Ausführlich werden hier die Mühen der Verbannung und Strafarbeit, aber auch die inneren Kämpfe des Helden, seine Zweifel, ob denn dies Ausharren und Dulden gerechtfertigt sei, vorgeführt.
Der zweite Teil wird mit der Geschichte um „Pandora“ eröffnet, die den Menschen ein Geschenk machen will, das jedoch von Epimetheus nicht erkannt wird, wofür ihn Gott wütend tadelt. Im Kapitel „Behemoth“ wird dann nachdrücklich mit dem Gewissen abgerechnet. Behemoth hat deshalb so leichtes Spiel mit Epimetheus, weil dieser „inwendig hohl“ ist:
„Ha! siehe: mit erhobnem Finger das Gewissen,
Der Predigt über einem Wörterbuch beflissen.“
Mit dem „Sieger“, der Rückkehr des Prometheus und dem Einsatz seiner inneren Kraft zur Rettung des Gottessohnes von unheilbarer Krankheit, und der Versöhnung mit dem „Bruder“, der seine Seele wiedergewinnt, schließt die Dichtung.
Die Fabel des Prometheus der Dulder ist einfacher, gestraffter und noch eindeutiger auf Prometheus konzentriert als der Vorgänger Prometheus und Epimetheus. Im Zentrum steht die scharfe Auseinandersetzung zwischen dem fehlbaren Gott und der menschlichen Seele, die sich vor dem Hintergrund einer pessimistisch gedeuteten Welt vollzieht. Der schöpferische Mensch als einzigartiges, selbstverantwortetes, innengeleitetes Individuum - das ist die Kernaussage der Dichtung:
„Gesetze brauchst du nicht, sie kämen denn von innen.
Die ganze Weisheit heißt: sich auf sich selbst besinnen ...“
heißt es im Anschluß an eine vielschichtige Charakteristik des menschlichen schöpferischen Geistes. Und immer wieder geht es um den Wert des einzelnen, verkörpert durch Prometheus:
„Behaupte trotzig: ,Ich`! ...
Gestehe mutig deinen Wert, ruf freudig: ,Ich`! ...
Du bist's, der im Verborgnen in ihm schafft und treibt.
Darum, Mund auf, Unsterblicher! Bekenne dich!
Ruf deinen Namen! Juble stolz und glücklich: ,Ich`!“
Dagegen steht Epimetheus für die Masse, der nicht zu trauen ist, ja die man verachtet:
„Den Mäusen Speck, den Füchsen Aas, den Gimpeln Leim,
Den Menschenleuten frömmelnden Gedankenschleim!“
Nicht zuletzt spürt man überall die Lebensweisheit eines erfüllten Lebens, das seine Erfüllung auch im Erdulden gefunden hat. Und der nahende Tod wird stärker als in anderen Dichtungen thematisiert:
„Nicht Leben - ein Versuch bloß, der nach Leben ringt,
Ein kläglicher Versuch, der allemal mißlingt.
Mit Not und Drangsal eine knappe Daseinsfrist,
Hernach der Tod, der aller Müh Ergebnis ist.
...
Der Lebensernte Speicher ist das Grab!“
Die Lebensmaxime des Prometheus, die er gegen alle Verlockungen und Drohungen verteidigt, die er keinem Gottesglauben opfert und die er in der Berufung auf sich selbst findet, könnte auch als die Maxime des Dichters Carl Spitteler gelten:
„Denn was da ist, ist meinem Geistesurteil pflichtig,
Und Wahrheit, lieblich oder schlimm, ist denkenswichtig.“
Imago:
Herzeleid
Eines Tages jedoch wußte er's, ob es ihm wohl oder weh tat.
Er hatte sie eines Vormittags, als er Frau Doktor Richard besuchte, dort vorgetroffen, munter gestimmt und zu harmlosen Scherzen aufgelegt wie er selber; kurz, sie «verstanden sich» heute. So war man denn in traulichem Geplauder sitzen geblieben, länger verweilend, als beabsichtigt gewesen, wie an die Stelle gebannt durch den freundlichen Geist der Stunde.
Vom Nachhall der Übereinstimmung betört, entschlüpfte ihm unten auf der Straße, wie sie ihm zum Abschied mit gutem Blick die Hand reichte, eine kindische Frage: «Und Sie kommen also jetzt nicht mit mir?»
«Natürlich nicht», antwortete sie belustigt, «hoffentlich nicht.»
«Wohin denn sonst?»
«Diese Frage! Heim zu meinem Mann und meinem Buben, die hungrig aufs Mittagessen warten.»
«Und ich? ich bin also ausgeschlossen?»
«Ei, durchaus nicht. Kommen Sie nur mit; mein Mann wird sich freuen.»
Sie war nicht sein! Und wie eine Katze, die einen Schuß bekommen hat, floh er nach Hause. Sie war nicht sein! Und er, der gemeint hatte, seine Liebe wäre wunschlos! Als ob es menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne allermindestens seine bleibende Gegenwart zu begehren. Sie war nicht sein! Schlimmer noch: sie gehörte einem anderen, einem Fremden! Gewußt hatte er ja das freilich längst; allein heute zum ersten Male spürte er es auch, da sie ihn verließ, um zu einem andern zu ziehen. Und das nannte sie «heimgehen»!
Die Katze, wenn sie den Schuß hat, verkriecht sich; doch das Schrot nimmt sie mit, und die Wunde, die anfänglich mehr schreckte als schmerzte, beginnt im stillen Winkel und arbeitet. Welch ein unerhörtes Vorrecht! was für eine empörende Ungleichheit! Tag für Tag, Jahr um Jahr bis ans Ende der Ende soll der andere mit ihr wohnen dürfen, er nie. Nicht einen Sommer, nicht einen Monat, nicht einmal ausnahmsweise einen Tag. Jenem alles, ihm nichts. Und nicht bloß mit ihr wohnen, sondern – hinweg, Gedanken! Denn weil der dort ohnehin zuviel hat, schenkt sie ihm zu ihrer Gegenwart noch Liebe und Freundschaft obendrein. Ist jener traurig, so tröstet sie ihn; ist er krank, sie härmt sich um ihn; stirbt er, ihre Sehnsucht folgt ihm übers Grab; gibt es eine Auferstehung, ihr erwachender Blick sucht jenen. Was hat denn der Anmaßliche für einen einzigartigen Wert voraus, daß ihm solch ein schwindelhafter Preis zuteil wird? Ist er etwa nicht auch ein Mensch? oder besitzt er für sich allein mehr Vorzüge und Verdienste als die übrige Menschheit zusammen?
Und keine Hoffnung! Nichts zu ändern! weder zu erklügeln noch zu ertrotzen; rundum nirgends eine Möglichkeit. Im Gegenteil: jede vorüberziehende Stunde, so bei Tag als Nacht, so bei Regen wie Sonnenschein, welches auch sonst ihr Inhalt sei, eines tut ihrer jede sicherlich, die eine wie die andere: sie gräbt die Kluft zwischen ihm und ihr tiefer, schürzt das Band mit jenem enger. Die Angewöhnung, das Verständnis, die gemeinschaftlichen Erinnerungen, die gegenseitigem Dankverpflichtungen, das nimmt ja doch nicht ab; im Gegenteil, das mehrt sich, das häuft sich. Das Kind, das beide vereint, wird je länger, desto mehr ihre Sorge und Teilnahme beanspruchen, mithin die Eltern noch inniger befreunden; es ist ja auch nicht gesagt, daß es das einzige bleibe, es kann möglicherweise ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erhalten; warum nicht? wer will's ihnen wehren?
Ach, hatte er sie unterschätzt, die Macht der Ehe, als er sie für eine Art Statthalterei betrachtete, meinend, es ließe sich billig teilen: jenem, dem Statthalter, der Leib und ihm die Seele! So scharf er auch sah, eines hatte er bei seiner Unerfahrenheit doch übersehen, die Hauptsache: das Mysterium des Fleisches, die tierische Gewalt des Naturtriebes, der die Mutter nötigt, Himmel und Erde um eine Kraftbrühe für ihr Kind herzugeben, der die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne angehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat, verurteilt, diesen einen zu lieben, auch wenn sie ihn verachtete. Puppe, Bebé und Papa, diese drei Worte erschöpfen den Lebensinhalt des Weibes. O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert, ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt! Herzhaft! lache ihres Abscheus, schleppe sie zum Altar; denn die Ehe ist stärker als der Haß, dauerhafter als die Liebe.
Eine Jungfrau wankt mit dem Verhaßten zur Kirche wie zum Schlachthof, leichenfahl, den Tod im Herzen, das einem andern gehört; frag nach zwanzig Jahren nach: «Kinder, freut euch, der Papa kommt morgen heim.» – «Wenn nur dem Papa kein Unglück zustößt!» Der andere dagegen, der einst Heißgeliebte, wenn der stirbt, so erhält er bei der Todesnachricht ein kleines Wehmütchen, wenn's hoch kommt ein mühsam erquetschtes Tränelein; nachher heißt es wieder Papa. Das ist die Macht der Ehe.
Nein, keine Hoffnung. Einen Naturtrieb bekämpfen? Narrheit. Gegen die Weltgesetze streiten? Wahnsinn. Die Wahrheit sprach zu ihm: «Verdammt auf ewig», und sein Gram gestand: «So ist es.»
Da ward er inne, daß, wer einen Menschen zu seinem Gott macht, sich einen Fluch pflanzt. Sind sie zu beneiden, die einen überweltlichen Gott haben, einerlei, was für einen; wäre er ein Zornbold wie Jehova, ein Ungeheuer wie Moloch; denn kein Gott keiner Religion ist unerbittlich, keiner verstößt in die Hölle, wer ihm liebend naht, keiner spricht zum Verzweifelnden: «Ich kenne dich nicht.» Und wäre selbst einer der Himmlischen fühllos wie Stein, eines ist er jedenfalls nicht: er ist nicht kleinlich. Man stößt auf keinen Direktor Wyß zwischen sich und ihm, man hängt nicht von der Gewogenheit eines Kurt ab, die Madonna der Christen gebärt kein Rudel von Buben, um deretwillen sie Himmel und Erde vergäße. Einen Menschen anbeten: nicht viel gescheiter als einen Wurm anbeten. Mit hellem Geiste sah er das ein; allein Einsicht heilt keine Entzündung. Sieh ein, daß das Gift, das dein Blut zu Eiter zersetzt, nur ein verächtliches Körnlein Schmutz ist, der Brand frißt trotzdem weiter.
Eben darum aber, weil seine Liebe Religion war, weil ihm in Theuda-Imagos symbolischem Antlitz alles Leben der Welt mitklang wie im Mutterangesicht die Heimat, verspürte er sein Leiden am schmerzlichsten in den edelsten Teilen der Seele. All die Andeutungen und Bedeutungen, all die Lichter, Gesichter und Gedichter, die da über die Brücke gewandelt kommen, welche die Wirklichkeit mit der Geisteswelt verbindet, langten wund an, mit einem blutigen Stich; sein gesamtes Lebensgefühl erkrankte zu einem sehnsüchtigen Heimweh; Heimweh nach ihr, Heimweh nach der gemeinsamen Heimat aller Geschöpfe, Heimweh nach sich selber. Denn er war ja sie; aber – o Höllenwunder der Unmöglichkeit! – sie war nicht er.
Und da er ein Mensch von Geist war, gezwungen, wenn er gebissen wurde, wissen zu wollen, was für eine Schlange ihn biß, mochte er sich mit seiner Vernunft über das Wunder der Lieblosigkeit unterhalten; zwecklos, wohl wissend, daß ihm die Erkenntnis nichts nützen würde, nur weil er als Denker nicht anders konnte als denken. Herzeleid aber stellt nicht das Denken still, im Gegenteil, es nötigt die Gedanken zu nagen. «Bist du wach? hast du Zeit? kannst du mir das Rätsel lösen, wie es seelenmöglich ist, daß ein Mensch, dem man das höchste Gut, den einzigen Trost auf Erden, also die Liebe schenkt, einem nicht mit Gegenliebe vergilt?»
Die Vernunft antwortete: «Sammle und vergleiche: Wenn du den lieben Gott liebst, liebt er dich wieder?» – «Ohne Zweifel.» – «Wenn du den Papst liebst, liebt er dich wieder?» – «Mäßig.» – «Wenn du die Herzogin von Aragonien und Kastilien liebst, liebt sie dich wieder?» – «Wird ihr schwerlich einfallen.» – «Wenn du eine Schnecke liebst, liebt sie dich wieder?» – «Könnte sie schon gar nicht.» – «Nun also, da hast du's. Je tiefer hinunter mit der Seele, desto weniger Liebe. Liebe bedingt Seelenfülle, Lieblosigkeit verrät Stumpfheit. Punktum.»
«Und das alles klar zu wissen, haarscharf einzusehen, es ist nur dein eigenes Phantasie-Ei, das dir aus dem Gläslein dieses kleinen Weibleins entgegenguckt, und trotzdem verdammt zu sein, dieses kleine Weiblein, das du weit überschaust, überfühlst und überdenkst, wie den Heiligen Gral zu begehren, nach ihr zu lechzen wie ein Verdurstender nach dem rettenden Quell! Wie erklärst du das?»
«Torheit, Torheit, mein Lieber!» lachte die Vernunft. «Doch üb du nur ruhig deine Torheiten weiter; das verspricht mir, daß dereinst noch etwas Vernünftiges aus dir wird.»
So unterhielt er sich mit der Vernunft über seinen Fall. Deswegen wurde ihm nicht um den geringsten Grad besser; im Gegenteil. Es ging ihm wie mit den Zahnschmerzen: je mehr man daran denkt, desto ärger wird es; und wenn man versucht, nicht daran zu denken, so zwingt einen der Schmerz, an den Schmerz zu denken. Wohin sollte er aber auch seine Gedanken retten, daß sie nicht den Schmerz vorfänden? Ob er jenseits des gestirnten Himmels in die Religion, ob er in den strahlenden Schöpfungsäther der Poesie flüchtete, immer stieß er auf seine Verdammnis, immer begegnete er diesem einen unseligen lieben Menschengesicht, das ihn überall hin verfolgte, um ihn von überall her mit seinem schönen kalten Blick zu vernichten.
O ihr Gedankenlosen, die ihr über das Leid unerwiderter Liebe lächelt! Nehmt, eine Mutter sähe ihr verstorbenes Kind, ihr einziges, aus dem Grabe steigen, lieblich und schön, von Himmelsglanz verklärt; sehnsuchtschreiend stürzte sie ihm entgegen; das Kind jedoch kehrte sich von ihr ab, fremden Blickes, mit verächtlichem Lippenrümpfen: «Was will mir die dort?» Würdet ihr da lächeln? Genauso war ihm zumute; das teuerste Stück seiner selbst aus ihm herausgerissen, gesondert umherwandelnd und ihn verleugnend. Und das tat so grausam, so unleidlich weh, daß er manchmal meinte, es dürfe einfach nicht sein, weil er es nicht ertragen könne.
Allein er war kein Schwächling, vielmehr standhaft und zäh. Darum rief er seinen Verstand zu Hilfe. «Da! so steht's. Leben muß ich; ertragen kann ich's nicht. Also was?»
Ihm antwortete der Verstand: «Komm, ich will dir etwas zeigen.» Und führte ihn vors Schlachthaus. «So, jetzt, denk' ich, kannst du's ertragen.» Hierauf, nachdem sie wieder zu Hause angelangt waren, fuhr er fort: «Siehst du, die ganze Kunst besteht darin, nichts Unheilvolles zu tun; tu lieber gar nichts. Beiß die Zähne zusammen, oder schrei meinetwegen, wenn's nicht anders geht; nur schrei nicht mit den Händen. Die Stunde besiegen ist alles; wer die Stunde besiegt, besiegt den Tag; wer den Tag besiegt, besiegt das Jahr; nur immer gerade jetzt nichts Verderbliches begehen. Die Stunde aber besiegt ein Mann – und du bist ja ein Mann –, vorausgesetzt, daß er gesund ist – und du bist ja gesund –, mit Arbeit. Darum laß die Schmerzen machen, das ist ihre Sache, sie können's allein; du arbeite; du weißt, was.»
Er wußte, was. Und da die Arbeit im Dienste seiner Strengen Herrin geschah, die da eine mächtige Göttin ist, flohen vor ihrem Odem die Quälgeister hinter den Vorhang, von wo sie allerdings dann und wann heimtückisch hervorschossen, um ihm einen raschen Stich zu versetzen, doch sich ebenso schnell wieder versteckten.
Was wissen wir eigentlich von Carl Spitteler? Teilt dieser große Schweizer Dichter das Schicksal vieler Vertreter der Poesie, daß sie nur von einer kleinen Elite gelesen werden? Bereits während des Ersten Weltkrieges mußte Romain Rolland zu seinem Erstaunen feststellen, daß Spitteler den meisten Deutschen überhaupt nicht bekannt war. Dabei war Rolland, wie er in seinen Tagebüchern Das Gewissen Europas notierte, „höchst verwundert über die Größe seines Geistes und seiner Kunst. Das ist in der Welt der Lebenden die ursprünglichste und kraftvollste Quelle, der ich in der Literatur begegnet bin.“
Dieses Urteil steht in deutlichem Gegensatz zum Bekanntheitsgrad des Dichters. Wenn denn doch einmal sein Name fällt, dann meist nicht im Zusammenhang mit seinen Werken, aus Kenntnis seiner Dichtung; sondern mehr wegen seiner öffentlichen Haltung während des Ersten Weltkrieges. Spitteler hat ein einziges Mal in seinem Leben eine politische Rede gehalten - aber ihre Folgen waren gewaltiger als die Wirkung all seiner Bücher. Es war am 14. Dezember 1914 in Zürich, als er seine Rede „Unser Schweizer Standpunkt“ hielt. In ihr ging es um die Haltung der Schweizer zum Krieg und gegenüber den kriegführenden Mächten. Er verlangte Zurückhaltung im Sinne der Neutralität, warnte vor einer inneren Zerreißprobe durch Parteinahme für oder gegen Frankreich oder Deutschland, fand aber auch klare Worte gegen die deutsche Kriegsführung gegenüber Belgien. Verallgemeinernd stellte er fest: „Die Namen Republik, Demokratie, Freiheit, Duldsamkeit und so weiter, bedeuten diese einem Schweizer etwas Nebensächliches? Es gab eine Zeit - ich habe sie erlebt -, da galten diese Namen in Europa alles. Heute werden sie nahezu als Null behandelt. Alles war zuviel. Null ist zuwenig.“
Spitteler hatte die scharfen, oft bösartigen Reaktionen - insbesondere aus Deutschland - vorausgesehen. Selbst sein erster Anhänger und öffentlicher Verehrer, der Musiker Felix Weingartner (1863-1942), der bereits 1904 eine kleine Arbeit über Spitteler veröffentlicht hatte, wandte sich nun in einem offenen Brief gegen Spitteler. Darin brachte er zum Ausdruck, dass er weiterhin das Werk bewundere, daß jedoch der Verfasser seines Werkes unwürdig sei; nicht er habe es geschrieben, sondern ein Gott, der in ihn gefahren sei, ein deutscher Gott natürlich. Spitteler reagierte darauf humorvoll: Es sei immerhin erstaunlich, dass dieser deutsche Gott nicht in einen Hindenburg gefahren sei, sondern in einen Schweizer, der Französisch, Russisch und Englisch spreche und diese Sprachen schätze.
Selbst die Herren des Nobelpreiskomitees zollten der öffentlichen Meinung in Deutschland Tribut. Als Spitteler 1915 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde, hieß es in der Ablehnung, daß sein politisches Verhalten in Deutschland und Österreich größten Anstoß erregt habe. Es unterliege keinem Zweifel, „daß seine Wahl, solange der Krieg noch andauert, in diesen Ländern ein höchst peinliches Aufsehen erregen und Mißverständnisse vielfältiger Art hervorrufen würde“. Nach Kriegsende hielt man es dann - gerade auch wegen der Neutralität des Schweizers - für angebracht, ihm den Preis zuzuerkennen. So erhielt er denn 1920 den Literaturnobelpreis für das Jahr 1919. Nun konnte man sogar auf eine Begründung aus dem Jahre 1914 zurückgreifen, in der es zu Spitteler hieß: „Der Dichter erhebt sich, sowohl in der Form wie im Inhalt, über die Gegensätze der Zeit, er zeigt sich sozusagen neutral gegenüber all ihren verbitterten und sinnlosen Kämpfen.“
Der Weg Spittelers bis zu dieser Anerkennung war weit. Am 24. April 1845 in Liestal (Schweiz) als Sohn eines Beamten und späteren Unternehmers geboren, war es der Wunsch des Vaters, aus Carl einen gut ausgebildeten Juristen zu machen. Mit dem Schulbesuch in Bern und Basel wurden dafür die Grundlagen gelegt. Vor allem durch seinen Lehrer Jacob Burckhardt am Baseler Pädagogium wurde Spitteler weltanschaulich entscheidend geprägt. In dieser Zeit entstand auch die lebenslange Freundschaft mit Joseph Viktor Widmann (1842-1911), der später selbst als Journalist und Schriftsteller wirkte. Der Briefwechsel der beiden Freunde ist eine der wichtigsten Quellen, um die geistige und künstlerische Entwicklung Spittelers nachvollziehen zu können.
Das Jurastudium, das er 1863 in Basel aufnahm, befriedigte ihn nicht. Es kam zu einer tiefen Krise. In einer fluchtartigen Wanderung gelangte er im Dezember 1864 bis Luzern, wo er sich längere Zeit, getrennt von seiner Familie, aufhielt. 1865 nahm er in Zürich ein Theologiestudium auf, das er 1867 in Heidelberg fortsetzte. Dabei ging es ihm wohl in erster Linie darum, Argumente gegen das Christentum und gegen die Religion überhaupt zu sammeln. Der Einfluß Burckhardts und auch Arthur Schopenhauers hatte aus ihm einen Pessimisten und Anti-Theologen gemacht. So war es nicht verwunderlich, daß sein erster Versuch, das Studium 1869 erfolgreich abzuschließen, scheiterte. Erst nach einem erneuten Studium in Basel gelang ihm dies 1871. Anstatt jedoch als Pfarrer eine ihm zugewiesene Pfarrei zu übernehmen, verließ er die Schweiz, um als Hauslehrer nach Rußland zu gehen.
Erst 1879 kehrte er in die Heimat zurück. Nach dem jahrelangen weltmännischen Leben in Adelsfamilien in Rußland war er enttäuscht vom Klima in der Schweiz. „Was für ein Gegensatz! und welch ein Hohn im Gegensatz! Draußen in der Fremde: offene Arme, warme Aufnahme, gutwillige Duldung seiner Eigentümlichkeit, Nachsicht gegen seine Fehler; hier in der Heimat: engherzige Nörgelei, Unfehlbarkeitsdünkel, Verneinung seiner gesamten Persönlichkeit“, hieß es in dem stark autobiographisch gefärbten Roman Imago über diesen Eindruck.
Er arbeitete als Lehrer in Bern und in Neuveville am Bielersee. 1883 heiratete er Marie Op den Hooff, war als Journalist bei der „Schweizer Grenzpost“ und der „Neuen Zürcher Zeitung“ tätig, bevor er 1892 nach Luzern in das Haus des Schwiegervaters zog. Nunmehr frei von materiellen Sorgen, konnte er sich ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten widmen.
In den folgenden Jahren erfuhr er viele Ehrungen. 1904 wurde ihm gemeinsam mit den späteren Nobelpreisträgern Thomas Mann und Hermann Hesse die Auszeichnung der Bauernfeldstiftung zuteil; 1909 machte ihn die Stadt Luzern zu ihrem Ehrenbürger; 1920 erhielt er neben dem Nobelpreis für das Jahr 1919 auch den Schillerpreis; 1921 wurde er zum Kommandeur der französischen Ehrenlegion ernannt.
Am 29. Dezember 1924 starb der Dichter in Luzern.
Carl Spitteler hatte lange nach seiner tatsächlichen Berufung gesucht. In seinen autobiographischen Erinnerungen gab er den Oktober 1862 als den Wendepunkt seines Lebens an: „Und jäh wie der Blitz, hell wie der Mittag durchfuhr mich ein Gedanke: Das ist's, nicht die Musik, nicht die Malerei, sondern die Poesie. In ihr kannst du deinen Trotz, deinen Grimm, überhaupt alles aussprechen, was dich bedrückt und was du zu sagen hast. Und sie bedingt keine technischen Studien, heischt keine Schule, keinen Unterricht, keine Hilfe, keinen Lehrer. Du bekommst es einzig mit deiner Seele und mit deinem Kunstgewissen zu tun. Und noch etwas, hei Glück! du kannst im stillen und geheimen schaffen, ohne daß irgendein Mensch es ahnt.“
Doch es sollte noch viele Jahre dauern, bis er diese seine Berufung einlösen konnte. Erst 1881 - und auch noch unter dem Pseudonym Carl Felix Tandem - erschien sein erstes Werk Prometheus und Epimetheus. Es blieb weitestgehend unbeachtet, auch wenn sich zum Beispiel Gottfried Keller sehr beeindruckt zeigte. Bekannter wurde Spitteler durch seine journalistischen Arbeiten, die zuerst in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften und dann in Sammelbänden wie Literarische Gleichnisse (1892) und Lachende Wahrheiten (1898) erschienen, sowie durch Erzählungen wie Conrad, der Leutnant (1898). Seine Versuche, auf der Bühne Fuß zu fassen, mißlangen total. Die einzige Aufführung eines seiner Stücke gab es mit dem „Parlamentär“ am 1. November 1889 in Basel - und es war ein Reinfall.
Spitteler sah sein eigentliches künstlerisches Anliegen im großen Epos. Sowohl seine Erzählungen als auch seine Gedichte (die Sammlungen Schmetterlinge und Glockenlieder) verstand er als Übungen, „ damit ich zukünftige schwerere und größere Werke in klingende Form fügen kann“.
Der Durchbruch im Schaffen Spittelers kam mit dem Versepos „Olympischer Frühling“, dessen vier Teile (Die Auffahrt; Hera, die Braut; Die hohe Zeit; Ende und Wende) zwischen 1900 und 1905 entstanden. Es geht darin um den Aufstieg der jungen Götter aus dem Hades zum Olymp, um die Auseinandersetzung zwischen Zeus und Apoll um Hera, um viele einzelne Geschichten, die sich um verschiedene Götter wie Apoll, Hermes, Dionysos, Poseidon u. a. ranken; schließlich wird die Hinwendung der Götter zur Menschenwelt in Gestalt des Herakles dargestellt. Bei aller Bezogenheit zu der griechischen Mythologie wird dem Leser schnell klar, daß es eine ganz eigene Welt ist, die Spitteler hier darstellt, und daß nicht Griechenland, sondern seine Schweizer Heimat den Rahmen bildet. In der Verleihungsrede für den Nobelpreis, die Harald Hjärne am 1. Juni 1920 in Stockholm hielt, heißt es dazu: „Hinter Spittelers Mythologie verbirgt sich ein ganz persönlicher innerer Kampf, und sie ist Ausdruck eines Lebensgefühls, das er sich im Laufe seiner eigenen Entwicklung erwarb. Er hat auf diese überlieferte dichterische Form zurückgegriffen, um im Bereich der Phantasie das menschliche Mühen, Hoffen und Verzweifeln widerzuspiegeln und Schicksale in ihrem erbitterten Freiheitskampf gegenüber der herrschenden Gewalt zu zeichnen.“
Eine besondere Stellung unter den Werken des Dichters nimmt sein einziger Roman Imago (1906) ein. Es ist die Liebesgeschichte Spittelers zu seiner Cousine Ellen Vetter-Brodbeck, und es ist zugleich eine differenzierte Darstellung der Beziehung von Kunst und Leben. Imago war für den Dichter nicht nur ein Kunstwerk, es war sein Herzblut: „Für meine Lebensgeschichte, also für meine Biographen wird es das allerwichtigste Dokument sein. Ich erscheine in allen meinen Werken verhüllt und maskiert, hier zeige ich meiner Seele kleinste Faser.“ Nicht zufällig benannte Sigmund Freud 1912 auf Vorschlag von Carl Gustav Jung seine Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften nach dem Roman Imago.
Spittelers Schaffen wird manchmal im Zusammenhang mit Friedrich Nietzsche gesehen. Zwischen beiden gab es eine lose briefliche Beziehung aus der letzten Zeit des Philosophen vor seinem geistigen Zusammenbruch. Spitteler nahm eine im wesentlichen distanzierte Haltung zum Gesamtwerk Nietzsches ein. Erst als die Schwester Nietzsches, Elisabeth Förster-Nietzsche, die Legende entwickelte, Spitteler sei entscheidend von Nietzsche beeinflusst worden, wandte der Dichter sich an die Öffentlichkeit und legte seine Beziehungen zu Nietzsche (1908) dar. Seine weltanschaulichen Grundpositionen blieben zeit seines Lebens von Burckhardt und Schopenhauer bestimmt, wovon nicht nur seine großen Werke, sondern auch seine philosophischen Versuche über die Würde des Menschen (1862) und die Unphilosophischen Gedanken (1910/11) zeugen.
Die wohl größte Wertschätzung fand Spitteler in einer Würdigung, die Romain Rolland zur Unterstützung der Kandidatur für den Nobelpreis an Verner von Heidenstam (1859-1940) in Schweden gesandt hatte. Darin hieß es: „Die großen Dichtungen Spittelers sind für mich während des Krieges eine Entdeckung gewesen, und ich kann sagen, daß sie mir die düsteren Jahre erleuchtet haben. Ich hatte das Gefühl, einer jener mächtigen Künstlerpersönlichkeiten zu begegnen, von denen man bedauernd feststellt, daß sie nur selten hier und da in der Vergangenheit anzutreffen sind. Maler, Dichter und Denker in einem, ist Spitteler einer der letzten großen Schöpfer von Mythen, epischen Legenden, philosophischen Parabeln. Ohne Zweifel ist er der größte Dichter, den die Schweiz jemals gehabt hat. Sie verkörpert sich in ihm mit ihrer absoluten Unabhängigkeit des Denkens, ihrem derben Humor und ihrer robusten Natur ... Ich möchte hinzufügen, daß mir Spittelers Charakter nicht weniger außergewöhnlich erscheint als seine Kunst ... Er war sein ganzes Leben lang frei, allein - und glücklich, dank des Lichtes und der Wärme seiner eigenen inneren Sonne.“
* * *
„Der war kein Narr, sondern er war ein Dulder“, heißt es im Roman Imago über den Helden des Buches. Damit ist die Brücke gebaut zu dem Spätwerk Spittelers, das im Todesjahr des Dichters 1924 unter dem Titel Prometheus der Dulder erschien. Es war einerseits eine Umarbeitung der Dichtung Prometheus und Epimetheus aus den Jahren 1881/82, wie Spitteler es selbst 1923 in einem Vortrag in Zürich erklärte („Warum ich meinen Prometheus umgearbeitet habe“); und es war andererseits eine eigenständige Schöpfung, in der die Lebenserfahrungen und Lebensansichten des Dichters eingeflossen waren.
Das zweiteilige Versepos war in einer vierzehnjährigen Arbeit entstanden. Die äußere Handlung entsprach dem früheren Werk: Prometheus weigert sich gegenüber Gott, seine Seele gegen ein Gewissen einzutauschen, und wird dafür hart bestraft und verbannt. Der Bruder Epimetheus dagegen willigt in diesen Tausch ein und wird zum König ernannt. Doch das Gewissen erweist sich als ein unzureichender Ratgeber: Epimetheus erkennt weder die Gabe, die Pandora den Menschen schenken möchte, noch kann er den ihm anvertrauten Gottessohn vor Behemoth, dem Repräsentanten des Bösen, schützen. Erst der zu Hilfe gerufene Prometheus rettet den Gottessohn, verzichtet jedoch auf irdische Ehren und zieht sich - versöhnt mit seinem Bruder - in die Einsamkeit zurück.
„Es war ein trüber Tag. Kein Hauch, kein Atem ging
Im stummen Nebel, der erstaunt vom Himmel hing“,
lauten die ersten Verszeilen, mit denen „Die Stunde der Versuchung“ eingeleitet wird. In der „Königswahl“ erfolgt einerseits die ausführliche Beschreibung der Einsetzung Epimetheus' als König, andererseits die Auseinandersetzung des Prometheus mit seiner Seele - seine Art von „Königswahl“. Im Kapitel „Der Schöpfer“ singt Spitteler ein Hohelied auf das künstlerische Schaffen, indem er Freud und Leid dieser Arbeit ausmalt. Mit dem „Dulder“ endet der erste Teil des Epos. Ausführlich werden hier die Mühen der Verbannung und Strafarbeit, aber auch die inneren Kämpfe des Helden, seine Zweifel, ob denn dies Ausharren und Dulden gerechtfertigt sei, vorgeführt.
Der zweite Teil wird mit der Geschichte um „Pandora“ eröffnet, die den Menschen ein Geschenk machen will, das jedoch von Epimetheus nicht erkannt wird, wofür ihn Gott wütend tadelt. Im Kapitel „Behemoth“ wird dann nachdrücklich mit dem Gewissen abgerechnet. Behemoth hat deshalb so leichtes Spiel mit Epimetheus, weil dieser „inwendig hohl“ ist:
„Ha! siehe: mit erhobnem Finger das Gewissen,
Der Predigt über einem Wörterbuch beflissen.“
Mit dem „Sieger“, der Rückkehr des Prometheus und dem Einsatz seiner inneren Kraft zur Rettung des Gottessohnes von unheilbarer Krankheit, und der Versöhnung mit dem „Bruder“, der seine Seele wiedergewinnt, schließt die Dichtung.
Die Fabel des Prometheus der Dulder ist einfacher, gestraffter und noch eindeutiger auf Prometheus konzentriert als der Vorgänger Prometheus und Epimetheus. Im Zentrum steht die scharfe Auseinandersetzung zwischen dem fehlbaren Gott und der menschlichen Seele, die sich vor dem Hintergrund einer pessimistisch gedeuteten Welt vollzieht. Der schöpferische Mensch als einzigartiges, selbstverantwortetes, innengeleitetes Individuum - das ist die Kernaussage der Dichtung:
„Gesetze brauchst du nicht, sie kämen denn von innen.
Die ganze Weisheit heißt: sich auf sich selbst besinnen ...“
heißt es im Anschluß an eine vielschichtige Charakteristik des menschlichen schöpferischen Geistes. Und immer wieder geht es um den Wert des einzelnen, verkörpert durch Prometheus:
„Behaupte trotzig: ,Ich`! ...
Gestehe mutig deinen Wert, ruf freudig: ,Ich`! ...
Du bist's, der im Verborgnen in ihm schafft und treibt.
Darum, Mund auf, Unsterblicher! Bekenne dich!
Ruf deinen Namen! Juble stolz und glücklich: ,Ich`!“
Dagegen steht Epimetheus für die Masse, der nicht zu trauen ist, ja die man verachtet:
„Den Mäusen Speck, den Füchsen Aas, den Gimpeln Leim,
Den Menschenleuten frömmelnden Gedankenschleim!“
Nicht zuletzt spürt man überall die Lebensweisheit eines erfüllten Lebens, das seine Erfüllung auch im Erdulden gefunden hat. Und der nahende Tod wird stärker als in anderen Dichtungen thematisiert:
„Nicht Leben - ein Versuch bloß, der nach Leben ringt,
Ein kläglicher Versuch, der allemal mißlingt.
Mit Not und Drangsal eine knappe Daseinsfrist,
Hernach der Tod, der aller Müh Ergebnis ist.
...
Der Lebensernte Speicher ist das Grab!“
Die Lebensmaxime des Prometheus, die er gegen alle Verlockungen und Drohungen verteidigt, die er keinem Gottesglauben opfert und die er in der Berufung auf sich selbst findet, könnte auch als die Maxime des Dichters Carl Spitteler gelten:
„Denn was da ist, ist meinem Geistesurteil pflichtig,
Und Wahrheit, lieblich oder schlimm, ist denkenswichtig.“
Imago:
Herzeleid
Eines Tages jedoch wußte er's, ob es ihm wohl oder weh tat.
Er hatte sie eines Vormittags, als er Frau Doktor Richard besuchte, dort vorgetroffen, munter gestimmt und zu harmlosen Scherzen aufgelegt wie er selber; kurz, sie «verstanden sich» heute. So war man denn in traulichem Geplauder sitzen geblieben, länger verweilend, als beabsichtigt gewesen, wie an die Stelle gebannt durch den freundlichen Geist der Stunde.
Vom Nachhall der Übereinstimmung betört, entschlüpfte ihm unten auf der Straße, wie sie ihm zum Abschied mit gutem Blick die Hand reichte, eine kindische Frage: «Und Sie kommen also jetzt nicht mit mir?»
«Natürlich nicht», antwortete sie belustigt, «hoffentlich nicht.»
«Wohin denn sonst?»
«Diese Frage! Heim zu meinem Mann und meinem Buben, die hungrig aufs Mittagessen warten.»
«Und ich? ich bin also ausgeschlossen?»
«Ei, durchaus nicht. Kommen Sie nur mit; mein Mann wird sich freuen.»
Sie war nicht sein! Und wie eine Katze, die einen Schuß bekommen hat, floh er nach Hause. Sie war nicht sein! Und er, der gemeint hatte, seine Liebe wäre wunschlos! Als ob es menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne allermindestens seine bleibende Gegenwart zu begehren. Sie war nicht sein! Schlimmer noch: sie gehörte einem anderen, einem Fremden! Gewußt hatte er ja das freilich längst; allein heute zum ersten Male spürte er es auch, da sie ihn verließ, um zu einem andern zu ziehen. Und das nannte sie «heimgehen»!
Die Katze, wenn sie den Schuß hat, verkriecht sich; doch das Schrot nimmt sie mit, und die Wunde, die anfänglich mehr schreckte als schmerzte, beginnt im stillen Winkel und arbeitet. Welch ein unerhörtes Vorrecht! was für eine empörende Ungleichheit! Tag für Tag, Jahr um Jahr bis ans Ende der Ende soll der andere mit ihr wohnen dürfen, er nie. Nicht einen Sommer, nicht einen Monat, nicht einmal ausnahmsweise einen Tag. Jenem alles, ihm nichts. Und nicht bloß mit ihr wohnen, sondern – hinweg, Gedanken! Denn weil der dort ohnehin zuviel hat, schenkt sie ihm zu ihrer Gegenwart noch Liebe und Freundschaft obendrein. Ist jener traurig, so tröstet sie ihn; ist er krank, sie härmt sich um ihn; stirbt er, ihre Sehnsucht folgt ihm übers Grab; gibt es eine Auferstehung, ihr erwachender Blick sucht jenen. Was hat denn der Anmaßliche für einen einzigartigen Wert voraus, daß ihm solch ein schwindelhafter Preis zuteil wird? Ist er etwa nicht auch ein Mensch? oder besitzt er für sich allein mehr Vorzüge und Verdienste als die übrige Menschheit zusammen?
Und keine Hoffnung! Nichts zu ändern! weder zu erklügeln noch zu ertrotzen; rundum nirgends eine Möglichkeit. Im Gegenteil: jede vorüberziehende Stunde, so bei Tag als Nacht, so bei Regen wie Sonnenschein, welches auch sonst ihr Inhalt sei, eines tut ihrer jede sicherlich, die eine wie die andere: sie gräbt die Kluft zwischen ihm und ihr tiefer, schürzt das Band mit jenem enger. Die Angewöhnung, das Verständnis, die gemeinschaftlichen Erinnerungen, die gegenseitigem Dankverpflichtungen, das nimmt ja doch nicht ab; im Gegenteil, das mehrt sich, das häuft sich. Das Kind, das beide vereint, wird je länger, desto mehr ihre Sorge und Teilnahme beanspruchen, mithin die Eltern noch inniger befreunden; es ist ja auch nicht gesagt, daß es das einzige bleibe, es kann möglicherweise ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erhalten; warum nicht? wer will's ihnen wehren?
Ach, hatte er sie unterschätzt, die Macht der Ehe, als er sie für eine Art Statthalterei betrachtete, meinend, es ließe sich billig teilen: jenem, dem Statthalter, der Leib und ihm die Seele! So scharf er auch sah, eines hatte er bei seiner Unerfahrenheit doch übersehen, die Hauptsache: das Mysterium des Fleisches, die tierische Gewalt des Naturtriebes, der die Mutter nötigt, Himmel und Erde um eine Kraftbrühe für ihr Kind herzugeben, der die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne angehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat, verurteilt, diesen einen zu lieben, auch wenn sie ihn verachtete. Puppe, Bebé und Papa, diese drei Worte erschöpfen den Lebensinhalt des Weibes. O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert, ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt! Herzhaft! lache ihres Abscheus, schleppe sie zum Altar; denn die Ehe ist stärker als der Haß, dauerhafter als die Liebe.
Eine Jungfrau wankt mit dem Verhaßten zur Kirche wie zum Schlachthof, leichenfahl, den Tod im Herzen, das einem andern gehört; frag nach zwanzig Jahren nach: «Kinder, freut euch, der Papa kommt morgen heim.» – «Wenn nur dem Papa kein Unglück zustößt!» Der andere dagegen, der einst Heißgeliebte, wenn der stirbt, so erhält er bei der Todesnachricht ein kleines Wehmütchen, wenn's hoch kommt ein mühsam erquetschtes Tränelein; nachher heißt es wieder Papa. Das ist die Macht der Ehe.
Nein, keine Hoffnung. Einen Naturtrieb bekämpfen? Narrheit. Gegen die Weltgesetze streiten? Wahnsinn. Die Wahrheit sprach zu ihm: «Verdammt auf ewig», und sein Gram gestand: «So ist es.»
Da ward er inne, daß, wer einen Menschen zu seinem Gott macht, sich einen Fluch pflanzt. Sind sie zu beneiden, die einen überweltlichen Gott haben, einerlei, was für einen; wäre er ein Zornbold wie Jehova, ein Ungeheuer wie Moloch; denn kein Gott keiner Religion ist unerbittlich, keiner verstößt in die Hölle, wer ihm liebend naht, keiner spricht zum Verzweifelnden: «Ich kenne dich nicht.» Und wäre selbst einer der Himmlischen fühllos wie Stein, eines ist er jedenfalls nicht: er ist nicht kleinlich. Man stößt auf keinen Direktor Wyß zwischen sich und ihm, man hängt nicht von der Gewogenheit eines Kurt ab, die Madonna der Christen gebärt kein Rudel von Buben, um deretwillen sie Himmel und Erde vergäße. Einen Menschen anbeten: nicht viel gescheiter als einen Wurm anbeten. Mit hellem Geiste sah er das ein; allein Einsicht heilt keine Entzündung. Sieh ein, daß das Gift, das dein Blut zu Eiter zersetzt, nur ein verächtliches Körnlein Schmutz ist, der Brand frißt trotzdem weiter.
Eben darum aber, weil seine Liebe Religion war, weil ihm in Theuda-Imagos symbolischem Antlitz alles Leben der Welt mitklang wie im Mutterangesicht die Heimat, verspürte er sein Leiden am schmerzlichsten in den edelsten Teilen der Seele. All die Andeutungen und Bedeutungen, all die Lichter, Gesichter und Gedichter, die da über die Brücke gewandelt kommen, welche die Wirklichkeit mit der Geisteswelt verbindet, langten wund an, mit einem blutigen Stich; sein gesamtes Lebensgefühl erkrankte zu einem sehnsüchtigen Heimweh; Heimweh nach ihr, Heimweh nach der gemeinsamen Heimat aller Geschöpfe, Heimweh nach sich selber. Denn er war ja sie; aber – o Höllenwunder der Unmöglichkeit! – sie war nicht er.
Und da er ein Mensch von Geist war, gezwungen, wenn er gebissen wurde, wissen zu wollen, was für eine Schlange ihn biß, mochte er sich mit seiner Vernunft über das Wunder der Lieblosigkeit unterhalten; zwecklos, wohl wissend, daß ihm die Erkenntnis nichts nützen würde, nur weil er als Denker nicht anders konnte als denken. Herzeleid aber stellt nicht das Denken still, im Gegenteil, es nötigt die Gedanken zu nagen. «Bist du wach? hast du Zeit? kannst du mir das Rätsel lösen, wie es seelenmöglich ist, daß ein Mensch, dem man das höchste Gut, den einzigen Trost auf Erden, also die Liebe schenkt, einem nicht mit Gegenliebe vergilt?»
Die Vernunft antwortete: «Sammle und vergleiche: Wenn du den lieben Gott liebst, liebt er dich wieder?» – «Ohne Zweifel.» – «Wenn du den Papst liebst, liebt er dich wieder?» – «Mäßig.» – «Wenn du die Herzogin von Aragonien und Kastilien liebst, liebt sie dich wieder?» – «Wird ihr schwerlich einfallen.» – «Wenn du eine Schnecke liebst, liebt sie dich wieder?» – «Könnte sie schon gar nicht.» – «Nun also, da hast du's. Je tiefer hinunter mit der Seele, desto weniger Liebe. Liebe bedingt Seelenfülle, Lieblosigkeit verrät Stumpfheit. Punktum.»
«Und das alles klar zu wissen, haarscharf einzusehen, es ist nur dein eigenes Phantasie-Ei, das dir aus dem Gläslein dieses kleinen Weibleins entgegenguckt, und trotzdem verdammt zu sein, dieses kleine Weiblein, das du weit überschaust, überfühlst und überdenkst, wie den Heiligen Gral zu begehren, nach ihr zu lechzen wie ein Verdurstender nach dem rettenden Quell! Wie erklärst du das?»
«Torheit, Torheit, mein Lieber!» lachte die Vernunft. «Doch üb du nur ruhig deine Torheiten weiter; das verspricht mir, daß dereinst noch etwas Vernünftiges aus dir wird.»
So unterhielt er sich mit der Vernunft über seinen Fall. Deswegen wurde ihm nicht um den geringsten Grad besser; im Gegenteil. Es ging ihm wie mit den Zahnschmerzen: je mehr man daran denkt, desto ärger wird es; und wenn man versucht, nicht daran zu denken, so zwingt einen der Schmerz, an den Schmerz zu denken. Wohin sollte er aber auch seine Gedanken retten, daß sie nicht den Schmerz vorfänden? Ob er jenseits des gestirnten Himmels in die Religion, ob er in den strahlenden Schöpfungsäther der Poesie flüchtete, immer stieß er auf seine Verdammnis, immer begegnete er diesem einen unseligen lieben Menschengesicht, das ihn überall hin verfolgte, um ihn von überall her mit seinem schönen kalten Blick zu vernichten.
O ihr Gedankenlosen, die ihr über das Leid unerwiderter Liebe lächelt! Nehmt, eine Mutter sähe ihr verstorbenes Kind, ihr einziges, aus dem Grabe steigen, lieblich und schön, von Himmelsglanz verklärt; sehnsuchtschreiend stürzte sie ihm entgegen; das Kind jedoch kehrte sich von ihr ab, fremden Blickes, mit verächtlichem Lippenrümpfen: «Was will mir die dort?» Würdet ihr da lächeln? Genauso war ihm zumute; das teuerste Stück seiner selbst aus ihm herausgerissen, gesondert umherwandelnd und ihn verleugnend. Und das tat so grausam, so unleidlich weh, daß er manchmal meinte, es dürfe einfach nicht sein, weil er es nicht ertragen könne.
Allein er war kein Schwächling, vielmehr standhaft und zäh. Darum rief er seinen Verstand zu Hilfe. «Da! so steht's. Leben muß ich; ertragen kann ich's nicht. Also was?»
Ihm antwortete der Verstand: «Komm, ich will dir etwas zeigen.» Und führte ihn vors Schlachthaus. «So, jetzt, denk' ich, kannst du's ertragen.» Hierauf, nachdem sie wieder zu Hause angelangt waren, fuhr er fort: «Siehst du, die ganze Kunst besteht darin, nichts Unheilvolles zu tun; tu lieber gar nichts. Beiß die Zähne zusammen, oder schrei meinetwegen, wenn's nicht anders geht; nur schrei nicht mit den Händen. Die Stunde besiegen ist alles; wer die Stunde besiegt, besiegt den Tag; wer den Tag besiegt, besiegt das Jahr; nur immer gerade jetzt nichts Verderbliches begehen. Die Stunde aber besiegt ein Mann – und du bist ja ein Mann –, vorausgesetzt, daß er gesund ist – und du bist ja gesund –, mit Arbeit. Darum laß die Schmerzen machen, das ist ihre Sache, sie können's allein; du arbeite; du weißt, was.»
Er wußte, was. Und da die Arbeit im Dienste seiner Strengen Herrin geschah, die da eine mächtige Göttin ist, flohen vor ihrem Odem die Quälgeister hinter den Vorhang, von wo sie allerdings dann und wann heimtückisch hervorschossen, um ihm einen raschen Stich zu versetzen, doch sich ebenso schnell wieder versteckten.
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