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Bild der Völker von
alfred.Spitzley
aus der Sparte Sachtitel/Wissen
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8.001 Erforschung der Menschheit
Autor/in: Lexikalwissen
Durch die gewaltige Forschungsarbeit, die in den letzten fünfzig Jahren von Anthropologen und Völkerkundlern geleistet worden ist, haben sich frühere Versuche, einem breiteren Publikum ein abgerundetes Bild von den Völkern und Kulturen unserer Erde zu vermitteln, als unzureichend und ungenau erwiesen. Das vorliegende Werk soll daher in zehn Bänden die Ergebnisse dieser Forschungen und Entdeckungen zusammenfassen, wobei mit einem Mindestmaß an Fachbegriffen ein Höchstmaß an Verständlichkeit angestrebt wurde, ohne die fachliche Autorität in Frage zu stellen
8.002 Warum betreiben wir Völkerkunde?
Autor/in: Lexikalwissen
Schon seit langer Zeit wird das Leben fremder Stämme und Völker von Ethnologen erforscht. Obwohl sie auch kompliziertere, »fortgeschrittene« Gesellschaften untersuchten, richtet sich ihr Hauptinteresse immer noch auf Naturvölker, die zumeist klein sind und denen eine fortgeschrittene Technik ebenso wie ein Schrifttum fehlt. Was sind die Gründe? Was hofft der moderne »zivilisierte« Mensch aus dem Studium dieser »primitiven« Gesellschaften zu lernen, wie manche sie noch immer nennen?
Zuerst ein praktischer Gesichtspunkt. Was immer unsere Kultur sein mag — was die Gesellschaft, in der wir leben, geprägt haben mag: Es wird immer wichtiger, etwas über Menschen mit einer anderen, möglicherweise technisch weniger entwickelten Kultur zu wissen. Da die Weltbevölkerung und mit ihr das Verkehrs- und Nachrichtenwesen sowie der Warenaustausch rund um den Erdball gewaltig zugenommen haben, sind wir alle, ob wir das billigen oder nicht, Angehörige einer einzigen Gemeinschaft geworden. Wir sind uns dessen besonders in pluralistisch strukturierten Gesellschaften bewußt, in denen eingewanderte Gruppen, die oft als rassische Minderheiten gesehen werden, in Koexistenz mit der Mehrheit der Ansässigen leben.
Das trifft aber auch in einem weltweiten Maßstab zu. In diesem »globalen Dorf« ist unser aller Geschick unauflösbar miteinander verflochten. Weder als Nation noch als einzelner kann irgend jemand von uns noch im »Alleingang« bestehen. Was Millionen von Menschen anderer Kulturen und Kontinente denken und treiben, ist für uns zu keiner Zeit wichtiger gewesen als heute. Je mehr wir von ihnen wissen, seien sie industrialisiert oder nicht — desto besser. Unsere sich ständig ausweitenden Beziehungen sind um so fruchtbarer und weniger gefährdet, je mehr sie auf gegenseitigem Verstehen aufbauen, anstatt wie so oft auf Mißverständnissen, Unkenntnis und Vorurteilen.
Obwohl wir als Angehörige der Gattung Homo sapiens uns alle grundsätzlich ähnlich sind, bestehen nicht nur zwischen den Individuen tiefe Unterschiede. Jede menschliche Gesellschaft hat über Generationen hinweg ihr eigenes kulturelles Gepräge mit charakteristischen Formen der Sprache, des Denkens und Handelns entwickelt. Es gibt eine große, wenn auch nicht unbegrenzte Anzahl kultureller Unterschiede; die Natur des Menschen schafft sich dabei ihre eigenen Schranken.
Alle menschlichen Einrichtungen sind Variationen über Grundthemen des Lebens; sie enthalten das Bedürfnis, zu verstehen und zu kontrollieren, einen bestimmten Grad sozialer Ordnung aufrechtzuerhalten, den Nachwuchs aufzuziehen und auszubilden, Nahrung und Obdach zu beschaffen und das nicht Voraussagbare und Unsichtbare zu bewältigen. Gesellschaftsordnungen drücken Beziehungen zwischen Individuen aus, die genau festgelegten Mustern folgen. Institutionen wie Ehe, Verwandtschaft, Religion oder Regierung entspringen den Überzeugungen und Wertvorstellungen, die von den Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werden.
In unserer Menschengemeinschaft können wir schwerlich 10 gleichgültig bleiben gegenüber der Vielfalt oft erstaunlich
komplexer und einfallsreicher Wege, auf denen sich verschiedene Kulturen mit diesen allgemeinen Problemen auseinandergesetzt haben. Heute sind fast alle »Stammes« - Gesellschaften in Afrika und anderenorts, wenngleich nicht notwendig dem Untergang, so doch einem schnellen Wandel unterworfen. Das schärft unser Interesse. Diese Veränderungen sind die Folge der wachsenden Beziehungen wirtschaftlicher und sonstiger Art, die zu den Ländern der »entwickelten« Welt bestehen, in einigen Fällen auch Auswirkung der gegen die Stammesstruktur gerichteten Politik junger Staaten selbst.
In vielen Teilen der Erde war das Zusammentreffen mit anderen Kulturen für Gesellschaften kleineren Umfangs verhängnisvoll. Es wäre nun aber ein Fehlschluß und würde zu nichts führen, wollte man versuchen, traditionelle Kulturen in Reservationen - oder zooähnlichen Einrichtungen zu erhalten; entscheidender Gesichtspunkt sind die Menschen und nicht die gesellschaftlichen Strukturen. Da aber viele dieser Kulturen vom Untergang bedroht und viele in der Vergangenheit schon ausgestorben sind, wäre es wissenschaftlich unverantwortlich, keine Aufzeichnungen über sie anzufertigen, solange die Möglichkeit dazu besteht.
Das Wissen der Völkerkunde kann außerdem für die Angehörigen »fortschrittlicher« Gesellschaften eine Hilfe dabei sein, ihre eigenen Kulturen objektiver zu beurteilen. Wenn wir etwas über andere Kulturen erfahren, begreifen wir uns selbst in einem ethnographischen Zusammenhang. Wir können dabei neue Wege entdecken, die gemeinsamen Probleme des menschlichen Daseins zu betrachten und zu bewältigen. Vielleicht stellen wir dabei fest, daß diese im Rahmen ihrer Umwelt genauso wirksam und »vernünftig« sind wie die unseren. So kann uns die Völkerkunde ein Gegenmittel für unseren Ethnozentrismus liefern, für die bei uns verbreitete und zunehmend gefährliche Überzeugung, daß unsere Art zu denken und zu handeln, so vertraut und »richtig« sie uns erscheinen mag, die einzig annehmbare wäre.
Das Wissen über die Kulturen anderer Völker kann uns auch helfen, unsere gesellschaftlichen Einrichtungen besser zu verstehen. Wenn wir beispielsweise den Sinn und die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Hexenglaubens bei einem afrikanischen Stamm erkennen, kann uns dies ein vertieftes Verständnis des Hexenwahns im europäischen Mittelalter ermöglichen. In Europa kann man Erscheinungen dieser Art nur anhand von Überlieferungen studieren; in einigen Ländern aber kann man vergleichbare Phänomene noch selbst beobachten. Irrationale, magische Denkweisen sind in den »hochentwickelten« Gesellschaften keineswegs erloschen; unsere Studien können uns helfen, sie zu erkennen und zu verstehen.
Und wenn wir erfahren, daß selbst Yams-Bauem auf den Inseln im westlichen Pazifik durch übermäßigen Konsum einen Prestigegewinn zu erlangen suchen, können wir auch verstehen, daß Angehörige »fortschrittlicher« Kulturen sich ebenso genötigt fühlen, durch Geltungskonsum mit den »Müllers« oder »Meiers« Schritt zu halten oder sie gar noch zu übertreffen — und zwar im privaten Leben wie auf natio-
John Beattie
naler und internationaler Ebene. Wir finden es leichter, solche Erscheinungen in anderen Gesellschaften zu erkennen und ihre gesellschaftliche Bedeutung zu verstehen als in unserer eigenen.
Schon seit einiger Zeit ist die praktische Anwendungsmöglichkeit der Völkerkunde auch von Nichtfachleuten erkannt worden. Regierungen der »Dritten Welt« haben sich in kolonialer und nachkolonialer Zeit Erkenntnisse dieser Wissenschaft in der Verwaltung und zunehmend bei der Ausführung von Entwicklungsprojekten zunutze gemacht. Man könnte einwenden, daß dies nicht in genügendem Maße geschehen ist; wohlgemeinte Entwicklungsprojekte sind in Schwierigkeiten geraten, weil versäumt wurde, in ausreichendem Maße die Wertvorstellungen und Überzeugungen der Menschen zu berücksichtigen, auch wenn ethnologisches Wissen zur Verfügung stand oder hätte stehen können. Manchmal ist das die eigene Schuld der Ethnologen, denn ihre Schriften sind, wie die anderer Sozialwissenschaftler, nicht immer frei von Fachjargon; nicht alle sagen die Dinge klar, präzise und ohne Umschweife.
Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß die Bezeichnung »Völkerkunde« in einem großen Teil der Dritten Welt nicht akzeptiert wird. Das ist verständlich, denn dieser Begriff wird mit dem Kolonialismus in Verbindung gebracht, da bis in die jüngste Zeit während der Kolonialherrschaft fast die ganze völkerkundliche Feldforschung mit Unterstützung des »Establishments« durchgeführt wurde. Für viele liegt in dem Begriff eine gewisse Herablassung. Man sagt manchmal, daß Gesellschaften, die von Ethnologen untersucht werden, zu den »primitiven« gehören, wogegen eine entsprechende Studie einer westlichen Gesellschaft zur »Soziologie« erhoben wird. Obwohl dieses Vorurteil - zurückhaltend formuliert - ungenau ist, macht es das nicht weniger wirkungsvoll oder aggressiv.
Unter welchem Namen aber auch immer — die völkerkundliche Forschung wird in vielen »unterentwickelten« Ländern genauso fortgesetzt wie in den westlichen. Und sie wird in steigendem Maße ebenso von Gelehrten aus den betreffenden Ländern und Kulturen selbst wie von denen anderer Länder durchgeführt. Da sich die traditionellen Gesellschaften in wachsendem Maße den modernen Bedingungen anpassen, verschieben sich auch ihre Forschungen allmählich von der alten Stammesgeschichte auf Probleme der Entwicklung.
Seit der Zeit der großen viktorianischen Anthropologen Tylor und Frazer wurde der theoretische Beitrag der Anthropologie zu anderen Wissenschaftszweigen von Historikern, Philosophen, Altphilologen, Religionssoziologen, Politologen, Sozialpsychologen und anderen Gelehrten weithin anerkannt und bestätigt. Heute können keine starren Grenzen mehr zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen befassen, aufrechterhalten werden. Es wird auch immer deutlicher, daß es keine absolute Grenze zwischen »Zivilisierten« und »Primitiven« gibt. Solche Unterscheidungen hängen ganz und gar vom eigenen Maßstab ab. Alle Gesellschaften sind in gewisser Hinsicht »primitiv« und »zivilisiert«. Und man
sollte bedenken, daß es innerhalb der Dimensionen der Menschheitsgeschichte ohnehin nur einen Augenblick her ist, daß alle unsere Vorfahren ebenfalls »primitive« Jäger, Hirten oder Bauern waren, die einer feindlichen Umgebung mit einfachen Werkzeugen einen kärglichen Lebensunterhalt abrangen - wie seit Jahrtausenden. Die Vergangenheit aber lebt, unter welchen Formen auch immer, in der Gegenwart weiter. Die Funktionen der komplizierten gesellschaftlichen Institutionen der modernen Welt sind grundsätzlich vergleichbar mit den Funktionen der von Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten geschaffenen Ordnungen und Einrichtungen. Grundsätzlich befassen sich auch alle Geistes- und Sozialwissenschaften mit dem gleichen Gegenstand, nämlich dem Menschen in der Gesellschaft; sie unterscheiden sich nur in der Fragestellung. Die Antworten, zu denen Sozial- und Kulturanthropologen gelangen, erweitern unser Verständnis für die menschliche Kultur der ganzen Welt.
Wie sieht die Arbeit dieser Forscher aus? Da die Völker, die sie untersuchten, vorwiegend zu schriftlosen Kulturen gehören oder im Begriffe sind, die Schrift zu erlangen oder sie gerade erlangt haben, können sie nicht wie die westeuropäische Kultur aufgrund von historischem oder literarischem Quellenmaterial erforscht werden. Nur selten gibt es zuverlässiges Dokumentenmaterial über eine unbekannte Kultur ohne schriftliche Überlieferung. Völkerkundler müssen daher gewöhnlich eine Gesellschaft an Ort und Stelle untersuchen. Darum ist das, was man etwas unglücklich »Feldforschung« nennt, der wichtigste Teil ihrer Tätigkeit. Manchmal beschuldigt man sie, aus der Feldforschung einen Fetisch zu machen und sie als eine Art Einführungszeremonie zu betrachten, der sie sich unterziehen müssen, um als »Professional« anerkannt zu werden. Diese Gefahr besteht sicherlich, aber andererseits muß das wissenschaftliche Faktenmaterial beschafft werden, was nicht mehr, wie in früherer Zeit, unausgebildeten Forschungsreisenden überlassen werden kann. Heute ist die Völkerkunde eine selbständige Spezialdisziplin mit ihrem eigenen theoretischen Rüstzeug und dem wissenschaftlichen Erbe der vergleichenden Ethnographie.
Die Feldforschung besteht nun aber nicht nur darin, daß man sich in eine unbekannte Gemeinschaft begibt und beobachtet, was dort geschieht. Es müssen ständig Probleme formuliert und neuformuliert werden; man muß Mittel finden, sie zu lösen. In mancher Hinsicht sind diese Probleme von denen des Naturwissenschaftlers ganz verschieden. Der Völkerkundler kann die sozialen und kulturellen Institutionen eines Volkes nicht verstehen, ohne sie bis zu einem gewissen Grade durch die Augen des Volkes selbst zu sehen.
Er muß, was schon nicht leicht ist, versuchen zu beobachten, was Menschen — im Unterschied zu dem, was sie denken — tun; darüber hinaus muß er auch lernen, wie sie denken und wie ihre sozialen und moralischen Wertvorstellungen beschaffen sind. Die eigenen Vorstellungen von Menschen über ihr Leben sind ein zentraler Teil ihrer Kultur; es gehört zu den wesentlichsten Aufgaben des Forschers, sich dieses Verständnis anzueignen, es ist auch die schwierigste. 1
Warum betreiben wir Völkerkunde?
Einige Völkerkundler glaubten früher, daß das »primitive« Denken nur eine einfachere, »kindliche« Version ihres eigenen »zivilisierten« Denkens wäre und daß es deshalb für ihn keine ernsten Schwierigkeiten geben könnte, es zu verstehen. Inzwischen haben die meisten Forscher erkannt, daß das nicht zutrifft.
Es wurde festgestellt, daß Völker ohne schriftliche Überlieferung Denkweisen besitzen, die voneinander und auch vom westlichen Denken völlig verschieden sind. Ihre Art zu denken basiert darauf, daß sie ihre Erfahrungen in ihre eigenen, ganz besonderen Kategorien einordnen. Wer sie verstehen will, muß lernen, wie sie ihre Erfahrungen klassifizieren; möglicherweise muß er dabei zuerst einmal seine eigene Denkweise aufgeben. Die Tatsache, daß dies überhaupt möglich ist, beweist die einzigartige Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich selbst zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, eigene Denkinhalte und -Strukturen zu relativieren und in diesem Sinne seine Grenzen zu übersteigen.
Das Studium einer anderen Kultur gleicht in mancher Hinsicht dem Erlernen einer fremden Sprache, das im übrigen auch einen wesentlichen Teil dieses Studiums darstellt. Eine Sprache zu erlernen ist aber besonders dann nicht leicht, wenn es keine Aufzeichnungen über sie gibt. Der Forscher muß sich deshalb mit möglichst wohlinformierten Mitgliedern der untersuchten Gruppe anfreunden, damit er mit ihnen ungezwungen Fragen der sprachlichen Bedeutung klären kann. Eine Hauptinformationsquelle sind Märchen, Legenden, Geschichten, Lieder, Sprichwörter und Rätsel, die von Generation zu Generation mündlich überliefert worden sind. Davon gibt es naturgemäß in Kulturen ohne schriftliche Überlieferung weit mehr als in der unsrigen.
Diese ganz besondere Art von »Literatur« unterliegt stetigem Wandel, bis sie vielleicht eines Tages von den Massenmedien ersetzt wird. Meist drückt sie in poetischer Sprache, mit Witz und Weisheit - oft sehr subtil - die fundamentalen moralischen und kulturellen Werte der Gemeinschaft aus. Für den Völkerkundler ist es grundsätzlich wichtig aufzuzeichnen, was er hört. Mündliche Überlieferungen und Aussagen gutinformierter Mitglieder der Gemeinschaft über ihre eigene Kultur können niedergeschrieben oder auf Tonband aufgezeichnet werden. So können sie später im Studierzimmer des Forschers wieder lebendig werden. Das »Rohmaterial« kann Monate oder sogar Jahre für eine spätere Analyse aufbewahrt werden.
Der Völkerkundler interessiert sich natürlich ebenso für das, was die Leute tun, wie für ihre Denkweisen und -inhal- te. Soziale Ordnungen entstehen genauso aus den Arten, Dinge zu tun - also aus Verhaltensmustern -, wie aus Denkmustern, und die Sozialstruktur kann wiederum die Ursache anderer Verhaltensmuster in der Gesellschaft sein. Diese Erkenntnisse sind eine wesentliche Grundlage der »funktionellen« Methode der Völkerkunde; Beobachtung und Aufzeichnung festgelegter gesellschaftlicher Lebensformen und ihrer Wechselwirkung sind ein entscheidender Teil der Feldforschung.
Manchmal sind solche Wechselwirkungen offenkundig, 12 beispielsweise wenn das Amt des Häuptlings oder Dorfvorstehers als wirtschaftlich, rechtlich, politisch und vielleicht auch rituell bedeutend angesehen werden kann. Manchmal sind die Verbindungen aber weniger offenkundig und möglicherweise sogar dem Volk selbst unbekannt. Man nehme z. B. ein öffentliches religiöses Ritual wie das Opfer. Selbst wenn es sein erklärtes Ziel, wie etwa die Abwendung einer Hungersnot oder einer Epidemie nicht erreicht, kann es immer noch einen gesellschaftlichen Sinn haben. Es kann zur Integration der Gruppe beitragen und familiäre Bindungen zum Ausdruck bringen oder verstärken.
Der Beobachter muß grundsätzlich sowohl eine Vorstellung haben, wonach er suchen soll, als auch die Zeit, um danach zu suchen. Und vor allem muß er vertiefte Kenntnisse über die Gesellschaft und die Kultur besitzen.
Nicht alle Beziehungen zwischen Einrichtungen und Verhaltensweisen in einer Gesellschaft sind aber »funktionell«; nicht alle tragen zu dem reibungslosen Funktionieren des Systems bei, obwohl einige Völkerkundler dieser Ansicht sind. Konflikte und Belastungen sind in den meisten Gesellschaften ebenso vorhanden wie Harmonie und Integration. Der Forscher interessiert sich in der Praxis für das, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht, ob es nun funktioneilen Charakter hat oder nicht.
Er legt seine allgemeinen Eindrücke von der Kultur nieder, ist aber auch darauf bedacht, detaillierte Berichte von Ereignissen aufzuzeichnen, die 'er erlebt oder von denen er gehört hat. Er beschreibt beispielsweise nicht, wie Streitigkeiten zwischen Nachbarn nach den Regeln einer bestimmten Gesellschaft bereinigt werden sollten, sondern, mit Bezug auf konkrete Fälle, wie sie tatsächlich bereinigt werden, sofern das überhaupt der Fall ist. Es werden Wahl- und Entscheidungsvorgänge aufgezeichnet, wie sie tatsächlich stattgefunden haben. Wenn der Völkerkundler schließlich seine Forschungsergebnisse veröffentlicht, kann der Leser diese selbst bewerten.
Aus ähnlichen Gründen verwendet der moderne Wissenschaftler die Methoden der Statistik, wenn auch nur auf einer ziemlich elementaren Ebene. Es genügt nämlich nicht, wenn man z. B. von einem bestimmten Stamm sagt, daß die Männer gewöhnlich die Töchter ihrer Mutterbrüder heiraten, oder daß eine Tötung — ob vorsätzlich oder nicht — oft durch eine weitere Tötung gerächt wird. Vielmehr ist eine Aussage über die Häufigkeit solcher Ehen oder vergeltenden Morde nötig, die sich auf eine ausreichend große Untersuchungsgruppe stützen muß.
Die völkerkundliche Forschung ist deshalb kein einfaches Unternehmen. Sie erfordert eine Vielfalt von Nachforschungen auf verschiedenen Ebenen zur gleichen Zeit. Der Wissenschaftler muß in der Gemeinschaft, die er erforschen will, leben, soweit wie möglich an ihrem Alltagsleben teilnehmen und in gewissem Umfang ihr Mitglied werden. Daraus ergeben sich mancherlei Probleme. Es ist offenkundig, wenn auch nicht allgemein anerkannt, daß ein Forscher, der sich für ein Jahr oder länger in einer Stammesgemeinschaft aufhält, deren Leben in mancher Hinsicht beeinflußt. Er kann jedoch nie volles Mitglied werden und bleibt bis zu einem gewissen Grad ein »Außenseiter«. Das ist gut und für
Warum betreiben wir Völkerkunde?
die Forschung unerläßlich, denn wenn er je ein Vollmitglied würde, würde er aufhören, Wissenschaftler zu sein; er würde als Stammesangehöriger die zur Objektivität nötige Distanz verlieren. Außerdem sprechen manche Menschen freier zu Außenstehenden, soweit sie sich auf deren Sympathie und Diskretion verlassen können. Fremde werden gewöhnlich als Gäste gesehen, auch wenn es hier meist selbstgeladene sind; man verhält sich anders, sobald Gäste anwesend sind. Viel hängt von der Art der Gesellschaft ab, etwa welche Bedeutung in ihr der Förmlichkeit und dem Status des einzelnen zugebilligt wird. Besonders wenn es sich um Gemeinschaften der Dritten Welt handelt, kann der Forscher einen auffällig höheren wirtschaftlichen und sozialen Status haben als seine Gastgeber. Das kann das bestehende Sozialgefüge der Gemeinschaft umstoßen.
Völkerkundler werden auch häufig mit den unerfreulicheren Seiten des Dorflebens konfrontiert; wenn sie aber irgendwelche Vorkommnisse an die örtliche Behörde weitergeben, kann das ernste Folgen haben. Die Beziehungen der Stammesmitglieder zu dem Forscher, zu den Behörden und auch untereinander können betroffen werden. Für den Feldforscher sind Takt und Diskretion wesentlich; das Vertrauen muß, falls nicht außerordentliche Gründe vorliegen, respektiert werden. Wenn er einen eingeborenen Informanten unter Druck veranlaßt, ihm geheime Informationen zu enthüllen, ihm — vielleicht gegen Belohnung — Stammesoder Gruppengeheimnisse zu verraten, so muß er sich darüber klar sein, daß er den Informanten damit in große Schwierigkeiten bringen kann, wenn andere Angehörige der Gruppe von dem Vertrauensbruch erfahren. Da auch Naturvölker zunehmend schreiben und lesen lernen, wird es ab und zu Vorkommen, daß die Angehörigen einer Gemeinschaft eines Tages selbst lesen, was über sie geschrieben worden ist. Wenn es der Autor versäumt hat, Takt und gesunden Menschenverstand walten zu lassen, kann das zu Peinlichkeiten und Auseinandersetzungen in der Gruppe führen.
Manche Völkerkundler sind betroffen von offensichtlichen Ungerechtigkeiten gegenüber den Individuen oder Gruppen, mit denen sie sich befassen, und setzen sich dafür ein, daß die Dinge in Ordnung gebracht werden. Fast alle Forscher, die in unterprivilegierten Gemeinschaften arbei
ten, verwenden einen Teil ihrer Zeit auf soziale Tätigkeiten wie einfache ärztliche Behandlung von Kranken und deren Transport in Krankenhäuser bei Notfällen. Auf diese und viele andere Arten beeinflußt der Forscher ununterbrochen die Menschen, die er studiert. Das bedeutet, daß er oft vor die Entscheidung gestellt wird, in einer bestimmten Situation zwischen wissenschaftlichem Interesse und moralischer Anforderung zu wählen. In einem solchen Falle sollte die Moral den Vorrang vor der Wissenschaft haben.
Noch eine letzte Frage: Kann der Völkerkundler angesichts dieser Tatsachen, nämlich seines Engagements sowie der — beabsichtigten oder unbeabsichtigten — Auswirkungen seines Einflusses auf die Gemeinschaft sicher sein, daß seine Darstellung objektiv und vorurteilsfrei ist?
Offensichtlich kann er das nicht. Wie jede andere Art der Vollkommenheit ist auch vollkommene Objektivität nicht erreichbar. Für den geschulten Völkerkundler ist das jedoch kein Hinderungsgrund, denn er hat Fähigkeiten, die ihm bei seiner Arbeit zugute kommen. Im Unterschied zum zufälligen Beobachter hat er gelernt, die Ursachen und Folgen von möglichen Beeinflussungen in der praktischen Situation abzuschätzen. Er kann sie daher in einem gewissen Maß in seine Feststellungen einbeziehen. Er akzeptiert selbst die Wahrnehmungen seiner eigenen Sinne nicht kritiklos. In einem bestimmten Zusammenhang gemachte Beobachtungen werden durch entsprechende andere systematisch bestätigt, widerlegt oder modifiziert. Annahmen, Wertungen und Klassifizierungen, die man von einzelnen Informanten oder einer Gruppe erfährt, werden bei anderen Informanten geprüft und nochmals überprüft.
Die völkerkundliche Feldforschung verlangt unabdingbar die Kunst der Interpretation. Sie bezieht jedoch auch die wissenschaftlichen Methoden der systematischen Beobachtung und des Vergleichs ein. Kein verantwortungsbewußter Völkerkundler würde jedoch behaupten, daß er eine fremde Kultur vollständig verstünde.
Aus den Ergebnissen der gesamten völkerkundlichen Arbeit, die im letzten halben Jahrhundert geleistet wurde, kann man jedoch ersehen, daß diese Disziplin unsere Kenntnisse von den verschiedenen Gesellschaften und Kulturen wesentlich gefördert hat. Dadurch wuchs auch unser Verständnis der menschlichen Gesellschaft und Kultur überhaupt.
8.003 Die Farmer im australischen Busch
Autor/in: Lexikalwissen
Australien ist das »Glückliche Land«, das »Zeitlose Land«, das »Land des weiten Himmels« genannt worden, aber auch, wie von dem Piraten William Dampier, der 1699 an der Nordwestküste landete, »der ungastlichste und trostloseste Ort, den ich je gesehen habe«. Fast ein Jahrhundert nach Dampier ging Captain Cook an der Botany Bay an der fruchtbaren Ostküste vor Anker und setzte die Sträflinge aus, die in den übervollen Gefängnissen Georgs III. keinen Platz gefunden hatten. Wir überlassen es den Historikern, die Ereignisse der nächsten zweihundert Jahre zu schildern. Unser Interesse gilt dem in bezug auf Bodenbeschaffenheit und Klima in verschiedene Regionen gegliederten Land und seiner Wirkung auf die Nachkommen der so rüde Ausgesetzten, die an diesem fremdartigen Ort keine andere Wahl hatten, als nach Überlebenschancen zu suchen oder unterzugehen. Es gab keine Halbheiten, keinen Weg zurück. Hierin liegen wahrscheinlich die beiden hervorstechendsten Eigenschaften des Australiers begründet, nämlich seine Fähigkeit, eine Sache durchzustehen, und seine Bereitschaft, das Beste aus allem zu machen, allen Widerständen zum Trotz.
Mit Zähigkeit und Mut meistert der australische Farmer alle Widrigkeiten. Mehr als allen anderen Bauern drohen dem Farmer im Busch Feuersbrunst und Überschwemmung, Dürre und Seuche, Gefahren, die Australien in unterschiedlichen Ausmaßen immer wieder heimsuchen. Im Binnenlande nimmt man diese Plagen als unabwendbares Geschick hin, während sie an der Küste, wo sie verhältnismäßig selten auftreten, als Ausdruck der Ungnade Gottes angesehen werden.
An der Küste leben die Menschen in enger Nachbarschaft miteinander; ihre Verkehrsverbindungen zu den städtischen Zentren sind günstig, ihre Wohnungen liegen im Ausstrahlungsbereich der Fernsehsender, und über das ganze Gebiet ziehen sich die Hochspannungsleitungen der Staatlichen Elektrizitätsgesellschaft wie ein Spinnennetz. Im Binnenlande dagegen betragen die Entfernungen zwischen den einzelnen Farmhäusem hundert und mehr Kilometer. Die Verbindung mit der Außenwelt wird hauptsächlich über Sprechfunk gehalten. Post und Zeitungen kommen in unregelmäßigen Abständen; ihre Zustellung hängt von der Einsatzbereitschaft des Postflugzeugs oder von einem gefälligen Gast ab, der den Postsack mitbringt. Es gibt Jahre, in denen kein Tropfen Regen fällt, andere, in denen sintflutartige Regengüsse die eingetrockneten Flüsse in reißende Ströme und die roten Staubebenen in ein Meer zähen Schlamms verwandeln. In solchen Zeiten können die Menschen oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten sein, denn selbst Flugzeugtypen wie die schnittigen kleinen Cessnas oder die DC-3 können auf den unebenen, mit einem Bulldozer in den Busch getriebenen Pisten nicht landen.
Die Abc-Schützen lernen ihr Einmaleins in der »Schule aus dem Äther«, einer allmorgendlichen Schulfunksendung der weit entfernten Radiostation. Wenn die Kinder älter sind, verlassen sie das Farmhaus, um in den größeren Städten ihre Ausbildung zu beenden; sie kommen dann nur noch 28 in den Ferien auf die Farm zurück und erfüllen das still gewordene Haus wieder mit Leben. Bei Unfällen und Krankheiten wird der Fliegende Doktor durch SOS-Ruf ins Haus geholt, doch oft muß man lange auf ihn warten, und manchmal, etwa bei Überschwemmungen, vergeblich.
Die Weidegründe in den fruchtbaren Küstenebenen bieten genügend Futter für etwa 13 Schafe oder 8 Stück Rindvieh je Hektar, im Norden und westlich der Australischen Kordillere dagegen kann die Bestockung mit einem Stück Rindvieh oder 30 Schafen je Quadratkilometer schon zu einer Überbeweidung führen. Diese geringe Ergiebigkeit des Weidelandes ist der Grund für die riesige räumliche Ausdehnung der Farmen im Busch, von denen manch eine 30 die Größe eines Königreiches hat. Doch schwanken ihre Erträge beträchtlich, und abgesehen von einigen Ausnahmen können nur wenige von ihnen besteuert werden.
Die größten Farmen sind schon lange nicht mehr persönliches Eigentum eines einzelnen; sie sind in den Besitz von überseeischen Kapitalgebern übergegangen. »Alexandria Downs«, mit einer Fläche von 18000 Quadratkilometern die größte Rinderfarm der Erde, ist im Besitz des Vestey- Konzems. »Victoria River Downs« gehört ebenfalls einer mächtigen Firmengruppe. Die »King Ranch« in Queensland ist ein Zweigbetrieb der gleichnamigen texanischen Farm und somit ein amerikanisches Unternehmen. Es gibt aber auch geschäftstüchtige Australier, deren Kenntnis der Rinderzucht auf ein Studium der Landkarte beschränkt ist; sie gründen dann Scheinfirmen und kaufen die Pachtgüter von den Farmern im Norden auf, besonders dann, wenn die Menschen, die seit fünfzig oder hundert Jahren hier Pionierarbeit leisteten, durch eine lange Dürreperiode in eine Notsituation geraten sind. Diese Geschäftspraktiken haben ihnen keine Sympathien, dafür aber den Spitznamen »Rindvieh-Könige vom Collins-Haus« eingebracht; das Collins- Haus in Melbourne ist eines der einflußreichsten Zentren der australischen Finanzwelt.
Im dünnbesiedelten Nord- und West- Queensland gibt es keine Arbeitsteilung. Farmer und Farmhelfer arbeiten gemeinsam unter harten Bedingungen in der Rinderzucht.
In den entlegenen Trockengebieten sind artesische Brunnen die einzige Wasserquelle für Schafe und Rinder; durch Bohrungen werden die tief unter der Erdoberfläche strömenden Wasserläufe angezapft und das Wasser mit Dieselmotoren oder riesigen Windmühlen hochgepumpt. Der Farmer in diesen Gebieten muß auch technische Fertigkeiten besitzen, denn der Ausfall einer solchen Pumpe kann zur Katastrophe führen, wenn er sie nicht schnellstens wieder in Gang bringt. Ausgebildete Handwerker aber haben Seltenheitswert. So muß er auch Automechaniker sein, wenn der Wagen, der ihn an die Schadensstelle bringen soll, ebenfalls streikt.
Höhepunkte im Arbeitsjahr eines Farmers sind die Ausmusterung der Tiere und ihre Kennzeichnung mit der Brandmarke der Farm. Vor der Ausmusterung werden oft Wildpferde (brumbies) eingefangen und zur Ergänzung des Pferdebestandes der Farm gezähmt. Diese Pferde sind wegen ihrer Wendigkeit und Leistungsfähigkeit für die oft gefährliche Arbeit im Busch besonders gut geeignet.
In Mittelaustralien, wo die befestigten Straßen enden, wo die Rinder den Staub aufwirbeln und die Farmhäuser immer seltener werden, hat sich ein besonderer Menschenschlag entwickelt, der nirgendwo sonst in Australien zu finden ist. Hier, im Mittelpunkt Australiens, liegt das sagenumwobene Städtchen Alice Springs, das nur durch eine enge Schlucht in der Macdonnell-Kette erreicht werden kann. Der Weg führt zwischen den Bergen hindurch, die sich meilenweit in ununterbrochener Kette auf beiden Seiten dahinziehen. Es heißt, daß jeder, der durch die Simpson-Schlucht geht, dem Zauber des Nordterritoriums verfällt und sich nie mehr ganz davon lösen kann. Man mag dies als das Gerede der Eingeborenen abtun, doch nehmen ganze Heerscharen von Touristen die Herausforderung der Schlucht jedes Jahr aufs Neue an, denn sie fühlen sich hier auf der anderen Seite der Berge von ihren persönlichen Problemen befreit und in eine nie gekannte Hochstimmung versetzt, die einem Gefühl der Freiheit und des Gelöstseins entspringt.
Das heißt aber nicht, daß uns am Ende der Schlucht ein Shangri La oder ein El Dorado erwartet. Das Territorium ist rauh und kompromißlos. Man muß einen im Süden ungeahnten Mut, Zielstrebigkeit und Ausdauer aufbringen, wenn man in dieser Landschaft bestehen will. Doch trotz allem liegt ein Zauber über diesem Gebiet; wie erklärt es sich sonst, daß die Touristen immer wieder hierher zurückkommen, und daß manch einer sogar für immer bleibt? Das Territorium ist unbeschreiblich schön. Am besten lernt man es wohl von der Luft aus kennen, denn die Straßen sind über weite Strecken sehr holprig und staubig. Die einzige Ausnahme bildet der Stuart Highway, der auf einer schnurgeraden Strecke von 1500 Kilometern Alice Springs und Darwin miteinander verbindet, die beiden einzigen größeren Städte auf einer Fläche, die mit 1,3 Mill. Quadratkilometern so groß wie Westeuropa ist.
Vom Flugzeug aus sieht man die leuchtenden Farben und die unermeßliche Weite des Territoriums; vereinzelt tauchen Farmhäuser auf, die sich wie ein stilles Schiff in einem 32 Meer von roter Erde ausnehmen. Wenn es sich um ein Postflugzeug handelt, wird man von oben bald das emsige Treiben beobachten können, das einsetzt, wenn das Flugzeug über den Dächern seine Kreise zur Landung zieht. Der Lastwagen wird eilig hervorgeholt und wartet schon an der Landestelle, wenn das Flugzeug aufsetzt. Der Farmer, seine Frau, seine Kinder, eine buntgemischte Gruppe Eingeborener und ihre mageren Hunde stehen zur Begrüßung bereit. Die Verwendbarkeit dieser kleinen kompakten Lastwagen ist unübertroffen, und es ist unglaublich, was so alles auf sie aufgeladen wird.
Thermosflaschen mit heißem Tee, Kuchen und Butterkrapfen werden hervorgeholt und im Schatten eines Flugzeugflügels verzehrt, während die Lubras — die Eingeborenenfrauen — und ihre Kleinen herumlungem und darauf warten, daß das Flugzeug entladen wird. Und was dann da alles herauskommt! Beileibe nicht nur die Post, auch Bierkisten, Konservendosen, Ersatzteile für einen Motor, Autoreifen, Wolle zum Stricken, dringend benötigte Medikamente, Babyflaschen, Saatkartoffeln, Küken — der Briefträger bringt fast alles ins Haus. Die Bestellungen waren vorher im Büro des Fliegenden Arztdienstes aufgegeben worden, der nicht nur Hilferufe beantwortet, sondern auch Nachrichten jeder nur vorstellbaren Art weiterleitet.
Die Menschen im Innern Australiens scheinen der vorgefaßten Meinung über einen Nord-Territorianer zu entsprechen. Sie sind hager, sonnenverbrannt und wortkarg. Ihre Augen sind daran gewöhnt, bei hellem Sonnenschein in große Entfernungen zu schauen. Sie haben die Begabung, den Wert eines Fremden abzuschätzen, und weisen ihn unbarmherzig ab, wenn er ihnen nicht zusagt. Die Einsamkeit scheint den Frauen nichts auszumachen; es gibt nur wenige Neurotiker, und die Ehen scheinen intakt zu sein.
Gelegentlich fahren sie nach Alice Springs oder Darwin, einmal im Jahr machen sie an der Küste Ferien, vorausgesetzt, daß das Jahr ertragreich war. Den Frauen im Busch ist Langeweile ein unbekanntes Übel; bei der vielseitigen und schweren Arbeit bleibt keine Zeit dafür. Sie stehen am Kochherd, überwachen die Schularbeiten, nähen und erledigen einen Großteil der schweren Hausarbeit selber, denn die Lubras sind im Haushalt eine recht zweifelhafte Stütze.
Wenn der Mann unterwegs ist, muß die Frau im Hause das Zepter übernehmen. Doch wird diese zusätzliche Aufgabe immer seltener notwendig, denn durch die neue Eisenbahnstrecke können in der langen Kette der zweigeschossigen Waggons mehrere hundert Stück Vieh auf einmal verladen und befördert werden. Damit entfallen die über Wochen und Monate dauernden Überlandtriften weitgehend. Noch immer dröhnen die alten Treibwege, wenn tausend Kopf »Rindfleisch auf Hufen« auf ihrem Weg nach Wynd- ham, Darwin oder zur Bahnstation darüber hinweg donnern.
Ein Viehzüchter kann ohne die Hilfe der eingeborenen Rinderhirten nicht auskommen. Der Tradition des Nordens folgend wohnen diese Hirten mit ihrer ganzen Familie zusammen. Sie errichten ihr Lager in der Nähe des Farmhauses, und alle Tanten, Onkel, Großväter sowie eine erstaunliche Sammlung ausgemergelter Hunde leben in fröhlicher Untätigkeit in ihren »Wurlies«, den windschiefen Hütten aus Rindenholz. Ihre Lebensmittel beziehen sie aus der Vorratskammer des Farmhauses, ebenso die Medikamente; hier suchen sie Rat, wenn das Baby eine Kolik hat, und bitten um Jod und Heftpflaster, wenn infolge ihres verwirrenden Liebeslebens die Lippen zerrissen und der Kopf mit Platzwunden übersät ist. Die Versorgung dieser Eingeborenen gehört auch zu den Routinepflichten der Farmersfrau, und sie entledigt sich ihrer mit Freundlichkeit, Geschick und großer Umsicht.
Der Entspannung dienen Bücher und die »Galah-Sit- zung«, der nach dem Gezwitscher der gleichnamigen rosafarbenen Sittiche benannte Schwatz über Sprechfunk mit den weit entfernt wohnenden Nachbarn. Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der Farmer sind jährliche Pferderennen. Zu dem dreitägigen Fest auf einer der größeren Farmen finden sich alle Freunde, Weiße und Farbige, ein. Sie kommen von Orten, die oft mehrere hundert Kilometer entfernt liegen. Diese Rennen entsprechen nicht ganz den Regeln der vornehmen Jockey Clubs, aber was die Pferde an Stammbaum vermissen lassen, wird durch Begeisterung wieder wettgemacht. Und in den Nächten herrscht dann ein fröhliches Treiben, es wird getanzt und viel getrunken. Die farbigen Farmer feiern in einiger Entfernung ihr »Corrobor- ree«, ein Tanzfest der Ureinwohner. Wenn alles vorbei ist, starten die Autos, Lastwagen und Campingbusse zu der weiten Fahrt nach Hause.
8.004 Australische Kleinstädter
Autor/in: Lexikalwissen
Die Stadt liegt wie unberührt von der Zeit in einem Tal. Altmodische Veranden mit Holzgeländern säumen die Hauptstraße. Eine Stange zum Anbinden der Pferde ist vor der alten Postherberge angebracht. Das Gerichtsgebäude, das Gefängnis und das Postamt sind noch von Strafgefangenen gebaut. Die sich gegenüberliegenden Häuserreihen wirken wie Kulissen für ein Bühnenbild der Jahrhundertwende. Mit Wellblech gedeckte Hütten ziehen sich über das Tal hin bis hinüber zu den Hügeln und dem Fluß, der eigentlich nur eine lustige Beigabe des Winters ist, denn im Sommer liegt sein Bett völlig ausgetrocknet da. Ein tausend Meter hoher Berg spiegelt sich in dem von Bäumen gesäumten Fluß. Noch vor zwanzig Jahren lebten viertausend Menschen in dieser Stadt und ihrer Umgebung, jetzt sind es noch zweitausend.
Früher bin ich in diesem Fluß geschwommen, bin durch die Bäche gewatet, die in den Fluß münden, und habe Blutegel, Kröten, Frösche und Yabbies, die köstlichen Süßwasserkrebse, gefangen. Während des kurzen Herbstes machten wir viele Picknicks an den Gewässern der weiten Umgebung und suchten die köstlichen Pilze, die die Menschen aus der Stadt und sogar von der Küste anlockten. Auch die Frühlingszeit war nur kurz, und auch sie war mit Picknicks ausgefüllt, deren krönender Abschluß die Suche nach den wildwachsenden Orchideen, Känguruhpfoten und anderen exotischen Blumen war. Doch hatten unsere Ausflüge auch weniger angenehme Begleiterscheinungen. So wurden wir von den Fliegen, Mücken und besonders von den Ameisen geplagt. Als Kinder sind wir auch oft zum Mile Poole geritten. Am Fuß dieses Berges lagen die Gemüsegärten der Chinesen. Die Imkerei auf dem gegenüberliegenden Hügel gehörte trinkfreudigen irischen Brüdern, und oft sahen wir zu, wie sie den Honig der köstlich duftenden Eukalyptusblüten aus dem Bienenkorb ernteten. Auf der anderen Seite des Hügels lagen Weizenfelder und Schafweiden.
Wir gingen in die protestantische Staatsschule; nur zum Musikunterricht schickte man uns zu den Nonnen eines in der Nähe gelegenen Klosters. Ab und zu drang eine Invasion Eingeborenenkinder in die Schule ein, aber das dauerte meistens nicht länger als drei Wochen, dann waren sie wieder verschwunden. Die Ferien verbrachten wir in den Seebadeorten und entgingen so dem langen heißen Sommer.
Zwanzig Jahre später hatte sich kaum etwas geändert. Honig gab es noch immer. Die Bewohner badeten in einem großen modernen Schwimmbecken. Die Schulkinder wurden im Sommer noch immer an die See geschickt, und die gar zu selten gewordenen Wildblumen waren unter Naturschutz gestellt worden. Die Chinesen waren aus Mile Poole verschwunden und mit ihnen ihre Gärten. Dafür bauten jetzt Albaner Gemüse und Melonen in der Nähe des Friedhofes an. Italiener hatten einen Zitronenhain angelegt, der jedoch in dem zu heißen Klima nicht so recht gedieh. Die Kindergärtnerin hatte drei Generationen lang die Kinder unserer Stadt ertragen, jetzt war sie nach Killamey zurückgekehrt — oder war sie gestorben? Das in Grün und Creme gehaltene Cafe wurde noch immer von Griechen geführt, 34 und so war auch der Speisezettel unverändert: es gab Pasteten, Eiscreme, zu lange gebratene Eier auf zu lange gebratenen Steaks. Auch die Ladenkneipe gehörte noch denselben Griechen von einst; ihr Angebot war seit jeher auf Fisch und Kartoffelchips beschränkt, dazu kam als besondere Delikatesse das Fleisch von jungen Haifischen. Beide Lokale machten ihr großes Geschäft mit den Lastwagenfahrern, großen dickbäuchigen Männern in der Einheitsuniform der australischen Arbeiter: blaues Unterhemd, schwarze Fußballshorts und Stiefel oder Riemensandalen. Der Gemüseladen war auf einen Italiener übergegangen. Der Apotheker hatte die Apotheke seinem Erstgeborenen übergeben. Der alte Doktor war im Ruhestand. Seinen Platz hatte ein »geschniegelter Junger aus der großen Stadt« eingenommen. Und das alte, noch von Sträflingen gebaute Krankenhaus war durch einen Neubau in der Nähe der ebenfalls neu errichteten High School ersetzt worden.
Der größte Teil der Stadtbewohner besaß nun einen Wagen, und zum Einkäufen fuhr man in die dreißig Kilometer entfernte größere Stadt, wo man in Supermärkten und Kaufhäusern alles kaufen konnte, was »es sonst irgendwo auf der Welt« gab. Der Eigentümer des ältesten Hotels, Sproß einer schottischen Familie, hatte seinem jüngsten Sohn die Führung des Hotels übergeben und sich in der Großstadt zur Ruhe gesetzt. Sein ältester Sohn hatte ein Hotel im Busch gebaut und vergeblich versucht, ihm durch verschwenderische Ausstattung - einen Hauch von Größe zu geben. Seine Frau, ein wohlhabendes Mädchen aus der Fleischindustrie, hatte im Ausland Kochen gelernt, und da sie gleichzeitig auch ihre Sprache verfeinert hatte, konnte sie nun als Empfangsdame wirken. Die Hotelhalle zierte eine 36 Tafel mit einem Dankeswort von Godfrey Winn. Das Frei-luftkino im Garten des alten Rathauses, von wo ehedem die Geräusche der Vorführungen über die ganze Stadt schallten, war zugunsten eines außerhalb gelegenen Autokinos aufgegeben worden. Der Lebensmittelladen gehörte noch immer der deutschstämmigen Familie, die schon seit der Zeit des Goldrausches hier ansässig war.
Die »hohe Herrschaft« war nicht mehr da. Sie hatte einst in dem großen, mit einer Veranda umgebenen Haus mit Blick über das ganze Tal gewohnt. Der alte Herr, ein stämmiger Landedelmann englischer Herkunft, hatte die ländlichen Pferderennen zu einem eleganten Zeitvertreib der Großstädter erhoben. Nach seinem Tode war seine Frau zu ihrer Tochter gezogen. Die herrlichen Gartenterrassen waren nun verwildert. Das Haus hatte ein Buchmacher erworben, während das Land aufgeteilt und anderen Farmen zugeschlagen worden war. Die Bankdirektoren legten im Bewußtsein ihrer Wohlhabenheit ein würdevolles Gebaren an den Tag, und die Menschen der Stadt begegneten ihnen mit größtem Respekt — wahrscheinlich der Hypotheken wegen.
Die Nachkommen der frühen Siedler bewirtschafteten noch immer ihre alten Felder. Sie lebten aber nun in der Stadt auf dem »Hügel der feinen Leute«, wo sie sich helle Backsteinhäuser mit weitläufigen Veranden und dekorativen schmiedeeisernen Gittern vor dem Fliegendraht als Alterssitz gebaut hatten. Die Häuser waren alle ziemlich einheitlich eingerichtet: Die Kaminsimse waren mit Familienfotos überladen, und an den Wänden flatterten fröhliche Gipsenten. Den Rasenstreifen vor der Haustür hatte man mit unempfindlichen Blumen bepflanzt. Bemerkenswert war, daß die jüngeren Söhne und Töchter meistens im College waren oder eine Stellung in der Großstadt angenommen hatten. Die meisten Bewohner stammten von den Angelsachsen ab, und ihre Kinder heirateten noch immer untereinander.
Etwa fünf Kilometer südlich der Stadt lag das Elendsviertel der Eingeborenen — baufällige Hütten, Autowracks, halbverhungerte Känguruh-Hunde waren der äußere Rahmen eines unsagbar armseligen Lebens. Manchmal kamen die zerlumpten Bewohner dieses Viertels in die Stadt; ihre Ausflüge endeten meistens Sonntag abends mit einem Zechgelage, bei dem sie dem süßen Sherry besonders gern und reichlich zusprachen.
Im Hinblick auf die geringe Einwohnerzahl der Stadt gab es außergewöhnlich viele Clubs. Da war der »Club der jungen Farmer«, dem eine Gruppe übermütiger junger Burschen angehörte; sie waren im Grunde gutartig, aber zügellos, rasten mit ihren schmutzigen Lastautos durch die Gegend, arbeiteten schwer und spielten hemmungslos. Weiter gab es die wohltätigen Vereinigungen des Apex Rotary Clubs und des Lions Clubs, die immer eindrucksvolle »Liga der Kriegsteilnehmer« und der ihr angeschlossene »Verein zur Unterstützung der Kriegerwitwen und -waisen« sowie die Logen der Freimaurer. Die der Obhut eines irischen Priesters anvertrauten Katholiken bildeten die größte christliche Gemeinde, während die Methodisten als Antialkoholiker in einer Stadt, deren gesellschaftliches Leben sich hauptsächlich in den Kneipen abspielte, eigentlich etwas deplaziert waren.
Der »Vereinigung der Landfrauen« gehörten Damen aller Konfessionen an. Bei Kirchenfesten sorgten sie für eine reichhaltige Imbißtafel, servierten den Tee bei den endlosen Diskussionen nach einem Pferderennen und veranstalteten alljährlich ein großes Mittagessen für Miss Australien. Es gab Cricket-Clubs und Fußballvereine, und die Kegelclubs, meist den Tennisclubs angegliedert, waren die Domäne der über Sechzigjährigen, die ihren Sport in strahlendem Weiß ausübten. Besonders elegant war der Golfclub, in dessen Bar häufig Parties stattfanden.
Eine Hochzeit ist in einer Kleinstadt ein Ereignis ersten Ranges. Zunächst gibt der Bräutigam seine Abschiedsparty vom Junggesellenleben. Seine ersten sexuellen Erfahrungen hat er wohl mit seiner Braut gemacht oder aber mit einem leichtfertigen Mädchen, das großzügig seine Gunst auf der Pritsche des Lastwagens verschenkte. Bei der Party erzählen die Kameraden gewagte Witze und haben nur das eine Ziel vor Augen, nämlich sich selbst und den Bräutigam durch maßloses Trinken außer Gefecht zu setzen. Dem Bräutigam werden auch derbe Streiche gespielt, zum Beispiel hat man solch einem Unglücksraben schon die Kleider vom Leibe gerissen, ihn mit Schuhwichse beschmiert an einen Baum gebunden oder als Paket verschnürt der Braut vor die Haustür gelegt.
Die Braut lädt zu einer Teeparty in der Küche ein; sie nimmt allerlei Gegenstände als Geschenk entgegen und läßt ihre Brautausstattung bestaunen. Sie hatte sie kurz vorher in Begleitung der Mutter und einer Brautjungfer in der Großstadt gekauft. Die Mutter wird ein Complet aus durchsichtigem Organza oder aus Thaiseide und einen topfförmigen, mit Guipurespitzen eingefaßten Hut tragen. Etwa zweihundert Gäste werden zu dem Empfang im Freien oder in der Stadthalle erscheinen und mit Curryreis, kaltem Schinken und Huhn sowie Obstsalat und Eiscreme bewirtet werden. Dazu trinkt man Bier und perlenden süßen Wein.
Anders dagegen die Bergwerkstadt. Ihr Wohlergehen hängt von den Launen der Mutter Erde ab; sie steht heute in Blüte, wie Coober Pedy, und ist morgen verschwunden, wie Hill End. Merkwürdigerweise ist in den australischen Städten alles gleichförmig: das Laub, der Himmel und der erdfarbene Teint der Menschen, ihre khakifarbene Kleidung, ihre Sprache, ja selbst die faden, eintönigen Speisen.
Die Intensität des Lichtes bleicht alle Farben, verwandelt die Augen zu schmalen Schlitzen und gibt der Haut eine lederartige Derbheit. Die Gesichtszüge vermitteln selbst bei jungen Menschen von kaum dreißig Jahren den Anschein fortgeschrittenen Alters.
Es ist eine erdverbundene, herzhafte Bevölkerung; selbst Frauen machen derbe Witze, und die Männer üben keine Zurückhaltung. »Wir haben nichts gegen sie, aber wir mögen sie nicht«, und damit meinen sie die Südeuropäer (da- goes), die farbigen Asiaten (wogs), die Ureinwohner (boongs) oder die Moralisten.
Die Klage einer englischen Einwanderin über Hitze, Staub und Fliegen wurde kurz und bündig mit dem Satz abgetan: »Das ist ein hartes Land, hier gibt es nichts Weiches!« »Nein«, fauchte sie zurück, »nur die Wolle«.
8.005 Die Ureinwohner im Norden Australiens
Autor/in: Lexikalwissen
Die australischen Ureinwohner waren von jeher Jäger und Sammler. Die gleichartigen Methoden bei der Beschaffung ihres Lebensunterhalts gaben zu der Vermutung Anlaß, daß sie alle, wenn auch geringe Abweichungen bestehen, demselben Volk angehörten. In Australien sind die Gesellschaftsformen nicht so vielfältig wie in Afrika. Die Unterschiede zwischen den Lebensformen der einzelnen Stämme sind geringfügig und manchmal, wie bei den Heiratsbräuchen, kaum zu erkennen. Im Gegensatz zu den Südstämmen sind die nördlichen Stämme weit früher mit Fremden in Berührung gekommen; dennoch konnten sie ihre Gesellschaftsordnung und ihr Gedankengut bewahren. In Am- hemland hatten die Küstenstämme wahrscheinlich schon Jahrhunderte vor dem Erscheinen der Engländer mit ma- layisch-indonesischen Fischern Verbindung. Diese Fischer kamen mit dem Nordwest-Monsun und suchten die Fanggründe nach der Seeschnecke ab. Sie blieben einige Monate, warben die Ureinwohner als Arbeitskräfte an und kehrten dann mit den Südostwinden in ihre Heimat zurück. In Queensland, im nördlichen Teil der Kap-York-Halbinsel, waren die Eingeborenen gleich mehreren Fremdeinflüssen ausgesetzt; ihre Verbindungen reichten über die Bewohner der Inseln der Torres-Straße bis zu den Kulturen Neuguineas.
Die Lardil leben auf der Mornington-Insel im Carpenta- ria-Golf im Norden von Queensland; sie verfügen über abwechslungsreiche Nahrungsquellen und finden an vielen Stellen der Inselstrände frisches Wasser. Schon früh haben sie eine Anzahl von Lagerplätzen eingerichtet, die sie über längere Zeit hinweg benutzten; damit haben sie eine gewisse Seßhaftigkeit entwickelt. Am Tage gehen sie auf die Jagd und kehren abends in ihr Lager zurück.
In der Vergangenheit lebten die Lardil ziemlich zurückgezogen, doch konnten sie auf ihren leichten Mangrovenholzflößen auch die Nachbarinseln erreichen. Gelegentlich, zum Beispiel zur Initiationsfeier eines jungen Mannes, besuchten sie sogar die Stämme auf dem Festland. Doch solche Besuche waren nur bei ruhigem Wetter möglich, denn auf unruhiger See konnte eine plötzliche Bö die einfachen Flöße leicht zum Kentern bringen.
Auf dem Lande sammeln sie viele verschiedene Wurzeln, Beeren, Süßkartoffeln, Panjas und Wasserlilien und jagen Wallabies, Sumpfschildkröten, Enten, Gänse, Eidechsen und Goannas. Im Meer fangen sie mit Hilfe von Steinfallen, Netzen, Haken, Leinen oder Speeren Fische wie Meeräschen, Lachse, Klippenbarsche und Barramundas. Ihre Hauptnahrungsmittel sind wahrscheinlich Seeschildkröten
und Seekühe. Die riesigen Seeschildkröten kriechen auf die Sandstrände und graben für die Ablage ihrer Eier Nester in den Sand. Zur Zeit der Eiablage kann man die weiblichen Tiere leicht auf den Rücken drehen; sie sind dann völlig wehrlos. Die Eingeborenen machen die Nester schnell ausfindig, sie brauchen nur den weithin sichtbaren Spuren zu folgen, die die großen Tiere in dem Sand hinterlassen. Im Gelege finden sie oft über hundert Eier.
Dieses Gebiet ist ein Weide- und Brutplatz der Dugongs, einer Art der Seekühe. Die Dugongs sind im Wasser lebende Säugetiere, wiegen mehrere hundert Pfund und haben sich so an ihr feuchtes Element angepaßt, daß selbst die Jungen im Wasser geboren werden. Nach Aussagen der Lardil werden tragende Weibchen manchmal kurz vor der Geburt von Haien gejagt, aber sie verstehen es, ihre Verfolger zu überlisten, indem sie nahe an die Küste heranschwimmen und Schlamm aufwirbeln. In dem trüben Wasser bringen sie dann die Jungen zur Welt.
Die Dugongs schwimmen oft in die größeren Flüsse hinein, um an den üppig wachsenden Wasserpflanzen zu weiden. Hier stellen ihnen die Lardil Fangfallen. Sie werfen bei Ebbe mitten im Fluß starke Netze aus und umgeben sie wie ein Gehege mit Büschen. Ein Mann steht an der Flußmündung und gibt Zeichen, wenn sich ein Dugong anschickt, flußaufwärts zu schwimmen. Nachts dient ihm eine Fackel aus Rinde als Signal. Einige andere Männer fahren auf Flößen die Flußufer ab; sie sollen dem Dugong den Rückzug abschneiden und ihn durch Schreien und Wasserschlagen in Panik versetzen und in das Netz treiben. Eine weitere Gruppe von Männern steht in der Nähe des Netzes und fügt dem Dugong mit Speeren schwere Wunden bei.
Das ist gefährlich, denn das Tier kann sich gegen einen der Netzhalter werfen und ihn schwer verletzen. Das kommt jedoch nur selten vor; gewöhnlich wird der Dugong im Netz festgehalten und das Schwanzende möglichst schnell aus dem Wasser gehievt, um so seine Kraft zu brechen. Ist der 43
Die Ureinwohner im Norden Australiens Schwanz, in dem sich die ganze Kraft des Dugongs bailt — die Flossen dienen nur der Steuerung einmal aus dem Wasser, kann er kaum noch etwas zu seiner Verteidigung tun. Anschließend wird das Tier auf den Strand gezogen.
Das Fleisch wird nach strengen, genau festgelegten Regeln aufgeteilt. Die Art der Verteilung ist ein Schlüssel für die Gesellschaftsstruktur der Lardil: So wie ihre eigene Gesellschaft in verschiedene Altersgruppen gegliedert ist, bestimmen sie auch die Dugongs nach dem Alter: da ist der Chef-Dugong, der Alte-Mann-Dugong, der Junge-Mann- Dugong, die Alte-Frau-Dugong, die Tragende Dugong, das Baby-Dugong. Welches Stück Fleisch ein jeder bekommt, hängt unter anderem davon ab, welcher Dugong wo gefangen wurde, wer bei dem Fang anwesend war und welche Rolle er dabei gespielt hat. Ist ein großer Dugong erlegt worden, so haben die Eigentümer des »Landes«, in dem er getötet wurde, Anrecht auf das Fleisch von Schwanz, Brust, Flossen und Nacken, während diese Fleischstücke eines kleinen Dugongs denjenigen zustehen, deren Mutter aus dem »Land« kam, in dem er getötet wurde.
Es gibt etwa dreißig patrilineale Lardil-Klans. Jedem Klan gehört ein kleines Areal mit direktem unbeschränktem Zugang zum Meer, zu dessen Nutznießung sie durch den Besitz des Bodens berechtigt sind. Dieses Areal ist ihr »Land«. Die einzelnen Länder sind sehr klein; ihr Küstenanteil mißt nicht mehr als acht Kilometer, und landeinwärts reichen sie ebenfalls nur wenige Kilometer in den Busch hinein. Aber auch die Klans sind klein; selten gehören ihnen mehr als zwanzig Personen an. Nach Ansicht der Lardil gehört der Boden allen Stammesmitgliedern gemeinsam. Sie besitzen daher das Recht, sich in allen Ländern frei zu bewegen und zu jagen. Doch haben die Eigentümer Anspruch auf einen Teil der in ihrem Lande erlegten Beute, auch dann, wenn sie nicht anwesend sind. Hat zum Beispiel jemand an der Küste eines fremden Landes einen großen Fisch gefangen, muß dieser in zwei gleiche Teile zerlegt und die eine Hälfte dem Landeigentümer übergeben werden. Wenn nach der Regenzeit die Wasserlilien eingesammelt werden können, überwachen die Eigentümer des Landes, in dem der Sumpf liegt, die Arbeiten, und zwar dürfen die Bewohner des Nordteils der Insel nur die Lilien im Norden des Sumpfes pflücken, die des Südteils nur im Süden und so weiter. Die Eigentümer selbst dürfen nur in einem bestimmten Umkreis vom Mittelpunkt des Sumpfes aus sammeln. Diese Art der Aufteilung ist die Grundlage des gesamten Rechts der Lardil.
Doch leben die Lardil nur selten in ihrem Land, denn für den Lebensunterhalt aller Stammesmitglieder ist es meistens zu klein. Sie haben daher an besonders günstig gelegenen Orten der Insel Lagerplätze eingerichtet, wo sie sich fast ständig aufhalten. Zu besonderen Anlässen versammelt sich der ganze Stamm an einem Ort, so zum Beispiel im Oktober, wenn ganze Schwärme von Dulnhu-Fischen im Uhrzeigersinn um die Insel schwimmen. Dieser Fischreichtum sichert die Ernährung der ganzen Bevölkerung für viele Wochen. Beim Fang der Dulnhus, bei ihrer Zubereitung und bei ihrem Verzehr müssen viele Tabus beachtet werden. Bei Neumond müssen alle Speere auf den Boden gerichtet sein, denn der Mond soll vergessen, daß er, dem Mythos zufolge, einst wegen seiner Habsucht getötet wurde. Der Fisch darf nicht mit dem Speer erlegt, er muß in Netzen gefangen und auf einem Feuer aus dem Holz des Teestrauches gegart werden.
Um den Begriff der Zeit haben die Eingeborenen ein komplexes Gedankensystem entwickelt. Die meisten Stämme wissen um das Hier und das Jetzt, die jeder Mensch an sich selbst erfährt. Darüber hinaus erlebt er die »Traumzeit«, in die der Mensch während des Schlafens versetzt wird. So ist auch die dunkle Vorzeit in der Vorstellung der Eingeborenen das Zeitalter des Traumes, aus dem der Mensch an einem bestimmten Punkt herausgerissen wurde; von diesem Moment an unterschied er zwischen Wachsein und Schlafen. Aus diesem Verständnis der Vorzeit wird auch den seltsamsten Traumerlebnissen eines jeden eine gewisse Realität zugesprochen; der Traum gehört gleichsam einer anderen Welt an. Die Lardil wissen jedoch, daß es nur wenige begnadete Menschen gibt, die den Gesang der Traumzeitgeister hören können. Dennoch glauben sie, daß diese Geister ihnen im Schlaf erscheinen und sie durch ihre Lieder und Tänze erfreuen und beschenken. Im Kulturgut der Lardil haben Gesang und Tanz einen besonderen Platz. So hören sie gebannt zu, wenn ein Mann im Schlafe singt, denn sie glauben dann die Stimme eines Geistes aus einer anderen Welt zu hören. Das Gehörte prägen sie sich schnell und fest ein, um es nicht wieder zu verlieren. Oder aber der Schläfer wacht mit dem Lied auf den Lippen auf und singt es in wachem Zustand immer wieder, damit er es nicht vergißt.
Bei Austragung der Rivalitäten zwischen den beiden Hauptgruppen von Klans, das heißt zwischen den nördlichen, den »Leuten unter dem Winde«, und den südlichen, den »Leuten über dem Winde«, spielt der Tanz eine große Rolle. Die Konflikte führen manchmal zu grimmigen Kämpfen; sie finden aber auch im Tanz ihren Ausdruck.
der Beschneidung die Kinder auf die Männer gelegt.
Beide Gruppen verfügen über einen eigenen Tanzplatz, wo sie ihre neuesten Tänze einstudieren, die bis zur Aufführung auf dem öffentlichen Tanzplatz geheimgehalten werden. Für einen Außenstehenden mag der Unterschied zwischen den Darbietungen unerheblich scheinen, aber beide Seiten machen ätzende Bemerkungen über Gesang- und Tanzstil der anderen. Thema der Tänze ist häufig das Leben der einheimischen Tiere wie Falken, Wallabies und Honig- biene — die in Australien heimischen Bienen stechen nicht. Aber auch Jäger werden dargestellt, wie sie im Busch dem Trillern der Vögel folgen und immer weiter vom Wege ab- kommen, bis sie sich schließlich verirrt haben. Sie können aber auch von der Flonigsuche handeln oder das Einsammeln der Wasserlilien beschreiben. Bei besonderen Anlässen werden mythische Themen aufgegriffen wie das der Regenbogenschlange, die in der Traumzeit verbrannte.
Die Tänzer sind mit einem Gürtel aus Menschenhaar, einem hohen Hut und Blätterbüscheln geschmückt. Das Rascheln der Blätter soll Wind vortäuschen. Der Hut, den sie nur zum Tanzen tragen, ist kegelförmig; er wird aus Baumrinde hergestellt, die mit einer Schnur aus Menschenhaar zusammengehalten wird. Zwei oder drei Emufedern zieren seine Spitze. Diese Federn sind sehr begehrt. Da es aber weder auf Mornington noch auf einer der Nachbarinseln Emus gibt, tauschen sie die Lardil, meistens gegen Bumerangs, bei den Stämmen auf dem Festland ein. Wenn die Männer die beiden Phasen der Initiationsriten abgeschlossen haben, tragen sie weiße Stirnbänder, an denen auf jeder Seite je ein Wallabyzahn hängt. Diese Zähne werden als Ersatz für Hundezähne gewählt, denen übernatürliche Kraft nachgesagt wird, da im Traumzeitalter ein Hund die erste Prüfung der Initiation bestanden hatte.
Wie fast alle Eingeborenenstämme werden auch die Lardil mit der »Zivilisation« konfrontiert. Die Vielschichtigkeit und Kraft der Industriegesellschaft hat Unsicherheit und Unruhe bei diesen Menschen ausgelöst, die bisher nur die einfachsten Lebensformen kannten. Die materiellen Güter der Weißen wie Äxte und Messer, Decken und Whisky üben eine starke Anziehungskraft auf sie aus. Einige dieser Dinge erleichtern das Leben und bringen Zeitgewinn, aber damit auch die Langeweile; denn nur wenige Eingeborene fühlen sich auch von der Lebensweise der weißen Australier angezogen.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Eingeborenen und Weißen macht deutlich, daß es Berührungspunkte eigentlich nur zwischen den Grenzbewohnern gegeben hat. Es ist eine bedauernswerte Tatsache, daß die Weißen im Busch viel zuwenig um die Erhaltung der Eingeborenen- Kulturen bemüht sind. Selten wird der Versuch gemacht, die Eingeborenen zu verstehen; doch ohne umfassende Kenntnis ihrer Kultur und Lebensformen können diese Menschen nicht in die moderne Welt eingegliedert werden.
Wie andere australische Eingeborenenstämme haben die Lardil eine sehr komplexe Heiratsordnung. In ihren Augen sind die Heiratssitten der Weißen befremdend einfach; die Weißen erwecken bei ihnen den Eindruck, daß sie bei ihrer Verheiratung an keine Ordnung gebunden sind. Bei den
Die Ureinwohner im Norden Australiens
Lardil dagegen müssen die Lhcpartncr den strengen Bräuchen und Tabus ihrer Gesellschaftsordnung entsprechen. In dieser Hinsicht vergleichen die Lardil die Weißen mit Tieren, die sich völlig willkürlich paaren. Dieses eine Beispiel macht deutlich, wie Mißverständnisse oder mangelnde Kenntnis zu Verwirrung und Verachtung führen können.
Die weißen Australier sind jedoch die Mächtigeren. Der Vernichtungsprozeß der Wert- und Gesellschaftsordnung der Urbevölkerung geht unaufhaltsam weiter. Viele weiße Australier stehen sogar der Integrationspolitik der Regierung ablehnend gegenüber. Die wenigen Missionare und Völkerkundler können kaum das Gleichgewicht wiederherstellen.
8.006 Die Eingeborenen der Gibson-Wuste
Autor/in: Lexikalwissen
Über der Gibson-Wüste im Innern Australiens steht eine flimmernde, staubige Hitze. Zwei Männer sind auf der Jagd.
Mit Speeren bewaffnet liegen sie hinter einem Spinifex- Grasbüschel in der Nähe ihres Lagers auf der Lauer. Sie warten auf den Emu, auf den großen Vogel, der wie ein Staubwedel auf Beinen aussieht und 45 Kilometer in der Stunde laufen kann. Ihr Köder ist ein Wasserloch, das sie in einiger Entfernung gegraben haben.
Die Stunden verstreichen langsam. Nur ein kleiner Mul- ga-Baum spendet den Jägern Schatten. Zur Verkürzung der Wartezeit kauen sie auf einem Tabakpfriem. Da — ein Laut. Der Emu kommt. Die Jäger legen schnell ihre Speere auf die wie eine Treibfeder wirkende Schleuder. Die Zeit wird nur für einen Schuß reichen. Der Emu nähert sich, zwanzig Meter, fünfzehn Meter, neun Meter - der Speer fliegt durch die Luft. Verfehlt! Der Vogel flieht.
Heute werden sie keinen Emu mehr aufstöbern. Aber auf dem Rückweg zum Lager winkt ihnen in Form einer Eidechse der Trostpreis. Von diesen Tieren, die in dieser herben, ungastlichen Gegend weit häufiger Vorkommen als Säugetiere, beziehen die Eingeborenen einen großen Teil ihres Eiweißbedarfs. Die Jäger haben die Spur der Eidechse in den Grasbüscheln entdeckt. Zehn Minuten später stehen sie vor ihrem Schlupfwinkel; sie zertrampeln das Erdreich rund um das Loch und zerstören so die unterirdischen Gänge, die Eidechse sitzt in der Falle. Einer der Jäger wirft mit einem Stock die Erde zur Seite — da ist die Beute, eine Goanna, etwa drei Pfund schwer. Wenig genug, aber sie wird das Mahl aus Larven, Termiten und Wurzeln, die die Frauen gesammelt haben, bereichern.
Die Frauen werden währenddessen von den Kindern und den rotbraunen Dingos beim Sammeln begleitet. Diese Hunde wurden vor etwa dreitausend Jahren von Menschen nach Australien gebracht, meist leben sie wild in Rudeln zusammen, aber sie werden auch von den Eingeborenen als Haustiere gehalten. Während also die Frauen, beladen mit Schüsseln voll Wasser, das der Erfrischung dient, Früchte sammeln, tollen die Kinder um sie herum, und die Hunde verfolgen kleine Eidechsen, die sich schnell davonschlängeln, um den räuberischen Gebissen zu entgehen. Die Frauen haben heute Glück. Sie sammeln die reifen Ngaru-Früch- te, die wie kleine grüne Tomaten aussehen. Die Eingeborenen essen nur die äußere Schale, die sie geschickt mit einem scharfen, flachen Stück Holz, dem Haarschmuck der Frauen, von den inneren Samenkernen abheben. Ngaru und die ihr ähnliche Kampurarpa-Frucht reifen zu verschiedenen Jahreszeiten und sind ein Hauptnahrungsmittel der Wüstenbewohner. Die Frauen haben ihre drei großen Holzschüsseln in weniger als einer Stunde gefüllt - mit ungefähr dreißig Pfund Früchten kehren sie in das Lager zurück.
Die Eingeborenen der Gibson-Wüste sind in ihrer primitiven Lebensform ein besonderer Anachronismus — leben doch viele von ihnen in der Umgebung der Raketenabschußbasis von Woomera und benutzen noch immer Steinwerkzeuge, die ältesten Werkzeuge der Menschheit, während ihre weißen Brüder fleißig neue Sterne in den Himmel schießen. Nach archäologischen Untersuchungen ist Australien seit wenigstens 20000 Jahren besiedelt, und nie waren seine Bewohner etwas anderes als Jäger und Sammler. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß je Ackerbau betrieben wurde, bevor die weißen Siedler auf den Kontinent kamen. Die einzige handwerkliche Betätigung scheint in der Herstellung von Steinwerkzeugen, meistens sogar ohne Schaft, bestanden zu haben. Und, obwohl bei den Eingeborenen heute Stahläxte und Messer bekannt und heiß begehrt sind, fertigen sich die Bewohner der entlegenen Gebiete 50 noch immer ihre Steinwerkzeuge selbst an.
Die Ureinwohner haben häufig stark hervortretende Augenbrauenbogen und wurden daher ursprünglich dem Neandertaler zugeordnet. Doch haben spätere Forschungen die Meinung des amerikanischen Anthropologen Sherwood L. Washburn bestätigt, daß »die australischen Ureinwohner neuzeitliche Menschen sind, die in der Form des Gesichts und der Gliedmaßen keine Kennzeichen des Urmenschen aufweisen«. Die Ureinwohner haben eine dunkle Hautfarbe, breite Nasen, starke Körperhehaarung und schlanke Glieder. Sie haben sich in hohem Maße den Bedingungen des Wüstenlebens angepaßt: starke Zähne und Kiefernmus- keln zum Zerkleinern ihrer rohen oder fast rohen Nahrung, dicke Hornhaut an den Füßen. Ein Mann geht oft stundenlang barfüßig über den steinigen, dornigen Wüstenboden, ohne die in seine Fußsohlen eingedrungenen Dornen zu entfernen.
Die Ureinwohner der westlichen Wüsten sprechen hauptsächlich Pitjantjara, doch beherrschen sie auch andere Dialekte. Bei Zusammenkünften mit Angehörigen anderer Stämme sprechen sie häufig als Zeichen der Ehrerbietung in deren Sprache. Die Gesamtzahl der Eingeborenen der westlichen Wüste wird auf dreitausend geschätzt. Genaue Angaben fehlen, da die Stämme ständig auf der Suche nach Nahrung oder zu Zusammenkünften mit Nachbarn in einem Gebiet umherwandem, das größer als die Bundesrepublik Deutschland ist. Wahrscheinlich war die Zahl der Wüstenbewohner auch schon bei Eintreffen der ersten Weißen niedrig. Die Eingeborenen haben Tausende von Jahren sehr isoliert gelebt, doch haben sie immer genügend Verbindung untereinander gehalten, um ihre Dialekte gegenseitig zu verstehen.
Der amerikanische Völkerkundler Professor Richard A. Gould, Universität von Hawaii, besuchte kürzlich eine Gruppe von Eingeborenen, von denen er annahm, daß ihnen noch nie ein Weißer begegnet war. Leider war ihm eine Patrouille des Raketenforschungszentrums in Woomera Ende 1969 zuvorgekommen. Nach einer beschwerlichen Reise im Landrover fand Professor Gould die Eingeborenen im Herzen der Gibson-Wüste. Ihr Lager bestand aus drei kleinen Feuerstellen mit einer Einfassung aus hellem Sand, die als Schlaf- und Sitzgelegenheit diente. Das Ganze war mit einem Windschutz aus Buschwerk umgeben. Um das Lager herum sah man angebrannte Akazienbäume und niedriges Buschwerk, südwestlich davon lag ein Wasserloch. Die Leute waren scheu, und sie lebten in diesem in bezug auf Nahrungsquellen wohl ärmsten Gebiet der Erde wie alle Eingeborenen, die noch nicht mit Weißen in Berührung gekommen sind, vom Sammeln und Jagen. Die Männer machten Jagd auf Emus, Känguruhs und anderes Wild. Doch bestand ihre Hauptnahrung aus den Beeren und Früchten, wie Quandongs, und Samenkörnern sowie Eidechsen und anderem Kleinwild, das die Frauen beschafften.
Bei ihren Wanderungen von Wasserloch zu Wasserloch in Verfolgung des Wildes und auf der Suche nach reifen Früchten tragen sie all ihre materielle Habe mit sich. Speere, Keulen, Holzschüsseln, Grab- und Wurfstöcke werden zum Teil in Gürteln aus Menschenhaar verstaut. Die Werkzeuge dienen oft mehreren Verwendungszwecken. Dies gilt besonders für die Speerschleuder, die nur noch die Eingeborenen dieser Wüste ausgiebig benutzen. Diese Schleuder gibt dem Speer einen solchen Schwung, daß er bis zu hundert Meter weit fliegt. Weiterhin wird er als Reibstock zum Feueranzünden und als Trommel bei religiösen Festen verwendet.
Bei den religiösen Bräuchen der Eingeborenen spielt die Bemalung eine große Rolle. Zu ihren Kultgegenständen, die sie nach der Zeremonie im Gebüsch aufbewahren, gehören kunstvoll mit geometrischen Mustern verzierte heilige Tafeln und Rasseln. Durch das Klappern mit den Rasseln halten sie die Frauen und die noch nicht durch die Initiation in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommenen jungen Männer von ihrer Feier fern. Zum Ritual der Feier gehört auch die Bemalung ihrer Körper mit Mustern, die denen auf den heiligen Tafeln gleichen. Diese .Zeichnungen kehren auch auf den vielen Felsbildern im Gebiete der Eingeborenen wieder, gleichsam als wollten sie jede neue Generation an die Ausübung des Rituals erinnern.
Grundlage für den Glauben der Eingeborenen ist die »Traumzeit«, eine endlose Periode, die sich aus der vorgeschichtlichen Vergangenheit bis zur Gegenwart erstreckt. In der Traumzeit bevölkerten Totems wie Opossum, Känguruh und Wasserschlange die Wüste. Sie hinterließen an heiligen Plätzen ihre Kraft, die das Leben der Menschen bis zum heutigen Tage schützt. Die Spuren dieser Traumzeitwesen überziehen die Wüste kreuz und quer wie ein Spinnennetz.
Unter den Eingeborenen gibt es Totemgruppen, deren Männer glauben, in gerader, männlicher Linie von demselben Traumzeitwesen, ihrem Totem, abzustammen. Auch die Frauen können diesen Gruppen angehören, müssen aber die kultischen Handlungen den Männern überlassen. Die wichtigste Kulthandlung ist die Beschneidung. Oft geht ihr eine »Studienreise« durch die Lagerplätze der einzelnen Stämme voraus, auf der die Initianden die heiligen Tänze und Lieder erlernen. Vor der eigentlichen Beschneidungsfeier werden sie von der übrigen Gemeinschaft abgesondert;
nur das Essen wird ihnen gebracht. In dieser Zeit, die sich über fünf Wochen hinziehen kann, vertiefen die Prüflinge ihre Kenntnisse über die in heiligen Liedern besungenen Traumzeitwesen. Die älteren Männer singen während dieser ganzen Zeit und führen Tänze auf, für die sie sich lange vorbereiten, indem sie ihre Körper mit Asche und Lehm in den heiligen Mustern bemalen.
Am Tage des Beschneidungsfestes setzen sich die Frauen schon im Morgengrauen abseits des Lagers. Die Männer singen die Lieder vom Traumzeit-Känguruh, und die Initianden liegen unter einer Decke versteckt. An die Lieder schließen sich Tänze an. Dann bemalen sie ihre Körper mit Holzkohle und Ocker und beträufeln sie mit Blutstropfen aus dem Arm. Gegen Sonnenuntergang nähert sich die Feier ihrem Höhepunkt. Riesige Feuer werden angezündet, die Initianden werden nackt herangebracht und auf den »Operationstisch« gelegt, das heißt auf die gebeugten Rücken mehrerer älterer Männer.
Die Beschneidung und der still ertragene Schmerz sind der Beginn des Manneslebens in einer Totemgruppe mit allen rituellen Verpflichtungen. Professor A. P. Elkin schrieb: »Wer solch eine Zeremonie nicht miterlebt hat, kann schwerlich ermessen, welch eine bedeutende Rolle sie für die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls des ganzen Stammes bei der Ausführung seiner gemeinsamen Aufgaben hat.«
Die Eingeborenen leben in Polygynie, auch in den Siedlungen und Missionen, wo sie heute vielfach leben. Hier wird der westliche Einfluß auf den primitiven Menschen besonders deutlich. Sie hausen in schäbigen Wellblechhütten. Einige arbeiten in Bergwerken, andere verrichten Gesindearbeiten wie Holzhacken, wieder andere schnitzen Bumerangs für die Touristen oder stellen Ziegelsteine her.
Ihre Nacktheit stört sie wenig, doch tragen die Mädchen in den Siedlungen bunte Kleidchen, und die jungen Männer versuchen mit großen Cowboy-Hüten und -Stiefeln ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Die ursprüngliche Lebensform der Eingeborenen weicht einer wachsenden Abhängigkeit vom weißen Mann.
8.007 Die ausgestorbenen Ureinwohner Tasmaniens
Autor/in: Lexikalwissen
Die tasmanischen Ureinwohner, eine rassisch eigenständige Gruppe, sind der einzige Zweig in der Entwicklung der Menschheit, der erst in jüngster Zeit ausgestorben ist. 1876 starb Truganini, die letzte reinblütige Frau ihres Volkes, in Oyster Cove, südlich von Hobart. Die Berichte über ihr Leben und ihre Zeit sind damit schon Geschichte geworden.
Als die Europäer das erste Mal auf die Tasmanier stießen, erschien ihnen deren Kultur so primitiv, daß sie in ihnen Vertreter des Steinzeitmenschen sahen. John Lubbock ging noch weiter und leugnete ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Art mit der Behauptung: »Die Bewohner vom Van- Diemens-Land und die Feuerländer sind in der Geschichte der Menschheitsentwicklung das gleiche, was Opossums und Faultiere in der Geschichte der Zoologie sind.«
Die Ureinwohner in Tasmanien waren — ebenso wie in Australien — steinzeitliche Jäger und Sammler. Im Unterschied zu den Bewohnern des Festlandes haben die Tasmanier aber nicht die gleichen kulturellen Fortschritte gemacht. Sie haben z. B. die Technik des Formens und Polierens von Steinen zur Anfertigung von Werkzeugen und Waffen - ein jungsteinzeitliches Verfahren, das auf dem Festland weit verbreitet war — nie gemeistert; sie stellten ihre Steinwerkzeuge immer allein durch Behacken und Spalten von Rohmaterial her. Der tasmanische Ureinwohner konnte auch nicht zeichnen. Seine Kanus bestanden lediglich aus Rindenbündeln, die mit Pflanzenfasern zusammengebunden waren. Er machte Feuer, indem er einen Stock in einer Vertiefung eines anderen rieb; die etwas fortschrittlichere Bohrmethode war unbekannt. Eine ausgeprägte Mythologie besaß er ebenfalls nicht.
Die Ursprünge des Tasmaniers liegen im Dunkeln und werden wohl auch nie erhellt werden können. Wahrscheinlich hat es in frühen Zeiten mindestens zwei Wanderungswellen von Südostasien auf den australischen Kontinent gegeben. Mit der ersten gelangte eine Menschengruppe mit dunkler Haut und wolligem Haar an; sie wurden in der zweiten Welle durch die Vorfahren der heutigen Australier, die anderen rassischen Ursprungs sind (ihre Haut ist nicht so dunkel und ihr Haar straff), nach Süden und damit auch nach Tasmanien verdrängt. Bis vor 11000 Jahren war Tasmanien mit dem Festland durch eine Landbrücke verbunden; als diese jedoch gegen Ende der Eiszeit durch den ansteigenden Meeresspiegel überschwemmt wurde, waren die Ureinwohner der Insel von jedem weiteren Kontakt abgeschnitten. So blieben sie ein steinzeitliches Volk äußerst primitiver Art, bis die Insel im 18. und 19. Jahrhundert von den Weißen erforscht und besiedelt wurde.
Tasmanien wurde 1642 durch Abel Tasman entdeckt, der es Van-Diemens-Land nannte. Anscheinend hat bis zur Erforschung der Küste durch eine französische Expedition 1772 kein Europäer die Insel betreten. In der Folge kamen auch Briten; Bass und Flinders umsegelten die Insel erstmalig im Jahre 1798. Erwähnenswert sind ferner die Reisen von La Perouse (1788) und Bruni d’Entrecasteaux (1791). 1802 wurde eine wissenschaftliche Expedition unter Baudin gestartet. Um eine Besiedlung durch die Franzosen zu verhindern, richteten die Briten 1804 eine Verwaltung ein.
Als Informationsquelle sind wir auf zahlreiche beiläufige Berichte ungeschulter Beobachter angewiesen; es gibt nur wenige sorgfältige Darstellungen von Europäern, die sich die Mühe machten, die Tasmanier zu verstehen. Nach allen Berichten waren die Bewohner Tasmaniens schmutzig, häßlich, klein und stämmig (im Durchschnitt maßen sie etwa 162 cm) und hatten schwarzes Wollhaar, das oft mit Ocker eingerieben wurde. Meistens gingen sie völlig nackt, nur gelegentlich schlangen sie ein Känguruhfell um ihre Schultern. Schultern, Brust und Arme von Männern und Frauen waren mit symmetrischen Narben bedeckt. Sie betrieben keinen Ackerbau, sondern führten ein Wanderleben. Sie hatten auch keine Haustiere; von europäischen Sieglern mitgebrachte Hunde wurden aber schnell akzeptiert und sogar oft wie Kinder gesäugt.
Ihre Nahrung hing weitgehend von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort ab; an der Küste aßen sie Schalentiere, Muscheln und Austern, im Landesinnern jagten sie Riesenkänguruhs, Wallabies und Opossums. Diese Kost wurde durch kleinere Tiere, Vögel und deren Eier, Larven, Pflanzen und verschiedene einheimische Wurzelgemüse ergänzt. Das Erstaunliche an ihrer Ernährungsweise ist jedoch, daß die Tasmanier niemals Fische gefangen und gegessen haben, was gleichermaßen von europäischen Beobachtern und Archäologen bestätigt wird. Ihre Waffen und Werkzeuge waren auf den Speer, die hölzerne Kriegskeule und Steine beschränkt. Ihre oft über drei Meter langen Speere waren geglättet und geschärft. Alle Beobachter stimmen darin überein, daß sie im Gebrauch dieser Waffe erstaunlich behende waren. Oft hielten sie den Speer zwischen den Zehen und schleppten ihn hinter sich her; so erweckten sie den Eindruck, unbewaffnet zu sein, schnellten den Speer aber dann plötzlich in die Hand. Ihre zweite Waffe, die Kriegskeule, bestand aus einem etwa 60 Zentimeter langen Stück Holz, das am Griff etwa 2—3 Zentimeter breit war und sich etwa auf 7—8 Zentimeter verdickte. Ein Beobachter berichtete, daß diese Waffe am dünneren Ende gehalten und entweder als Keule oder als Geschoß — und zwar mit ungeheurer Kraft und großer Zielsicherheit — verwendet wurde.
Kriege zwischen den einzelnen Stämmen waren sehr häufig. Wahrscheinlich wurde um Jagdgründe gekämpft; mit der Ankunft der britischen Siedler, die die Bevölkerung von ihrem Land verdrängte, wurden die Kriege häufiger. Innerhalb eines Stammes gab es weder erbliche noch gewählte Häuptlinge; jedoch wurde die Führerschaft von Männern, die sich in Stammeskriegen als mutig und tapfer erwiesen hatten, anerkannt.
Die Steinwerkzeuge bestanden aus Steinen und Kieseln, die auf der einen Seite so behackt oder gespalten wurden, daß eine Schneide entstand. Die Steine wurden benützt, um Speere zu schneiden und zu schärfen sowie um Kerben in die Bäume zu hauen, die das Erklettern erleichterten. Mit den Steinen häuteten sie auch Känguruhs und schnitten sich das Haar. Sie bauten keine Häuser, sondern hatten nur einen Windschutz aus Baumästen, hinter dem Feuer gemacht wurde; es wird berichtet, daß sie nur bei allerschlechtestem Wetter eine Art Obdach errichteten.
Heiratszeremonien wurden von keinem Europäer beschrieben oder beobachtet. Polygamie war weithin üblich; es gab jedoch auch Monogamie. In beiden Fällen wurden die tasmanischen Frauen schlecht behandelt. »Harte Arbeit ist das mütterliche Erbteil der armen Eingeborenenfrau«, schreibt ein Kommentator. »Beim Wandern fällt die Aufgabe, ihr Kind, die Nahrung und alles Hab und Gut zu tragen, der armen Frau zu, während ihr Herr, unbelastet bis auf Schild, Speer und Kriegskeule, erhobenen Hauptes vor seiner schwankenden Sklavin dahinschreitet«. Kein Wunder, daß sich viele Frauen weißen Beschützern anschlossen.
Die Ansichten über die Intelligenz dieses Volkes gehen auseinander; der beste zeitgenössische Kommentator, Rev.
John West, wird den Tasmaniem wohl am ehesten gerecht, wenn er sagt: »Ihre Intelligenz ist nicht sehr entwickelt, jedoch mehr, als man oft aus den Schilderungen schließen könnte. Sie erscheinen begriffsstutzig, wenn man sie auf Gegenstände anspricht, die keine Beziehung zu ihrer Lebensweise haben; innerhalb ihrer eigenen Sphäre reagieren sie jedoch schnell und schlau.«
In den frühen Jahren der Kolonisation standen die Ureinwohner und die Kolonisten trotz eines gegenseitigen Mißtrauens auf relativ gutem Fuß; die Beziehungen verschlechterten sich jedoch, als die Kolonisten den Lebensraum der Ureinwohner immer mehr einengten. Gegen 1825 hatten sich die Eingeborenen zurückgezogen; sie näherten sich den Siedlern nur noch, wenn sie einen Angriff starteten. Um das zu unterbinden, begann der Gouverneur, Colonel George Arthur, seinen spektakulären und kostspieligen »Schwarzen Krieg« mit dem Plan, alle Ureinwohner — wie in eine Falle — in die Tasmanhalbinsel im Osten zu treiben. Der Versuch wurde jedoch ein Fehlschlag, denn die Einheimischen waren mit der zerklüfteten Landschaft ihrer Heimat zu vertraut und konnten den landesunkundigen Verfolgern entkommen. Nur eine Frau mit einem schlafenden Kind wurde gefangen. Colonel Arthurs »Schwarzer Krieg« kostete die Regierung etwa £ 36000.
Was 5000 Mann nicht erreichen konnten, gelang einem einzigen unbewaffneten Mann fast ohne Hilfe. Zwischen 1831 und 1836 gelang es George Robinson, einem Missionar, der das Vertrauen der Eingeborenen errungen hatte, die überlebenden Ureinwohner zusammenzuholen. Man überredete sie dazu, ihr Nomadenleben aufzugeben, und die Regierung siedelte sie auf der Flinders-Insel an.
Die Maßnahme war gut gemeint, wirkte sich jedoch verhängnisvoll aus. Die Tasmanier wurden in Häusern untergebracht und gezwungen, Kleider zu tragen. Die Nahrung wurde ihnen geliefert, und man lehrte sie die christliche Religion. Man errichtete Schulen und lehrte sie Mathematik, Geographie und Geschichte. Ihrer traditionellen Lebensweise beraubt, siechten sie aber langsam dahin. 1847 waren von den etwa 2000 Tasmaniem noch 47 übrig, die auf das Festland gebracht wurden. Dort verschlechterte sich ihr Zustand schnell durch den Kontakt mit der weißen Zivilisation. 1865 starb der letzte reinblütige eingeborene Mann; Tru- ganini, die letzte Frau, lebte noch bis 1876. Das Schicksal der Tasmanier ist mit dem der Patagonier zu vergleichen.
8.008 Die Tiwi & Die Melville- und Bathurst-Inseln
Autor/in: Lexikalwissen
Die Zwillingsinseln Melville und Bathurst, die durch die schmale Aspley-Straße voneinander getrennt sind, liegen vor der Nordküste Australiens, etwa 50 km von Darwin entfernt. Vom Festland aus kann man an einem klaren Tag ihre Konturen schwach erkennen. Sie sind zusammen etwa 7600 Quadratkilometer groß und liegen im tropischen Klimabereich. Ihre Hügel und Ebenen sind teilweise mit Wald bedeckt. Sowohl auf dem Land wie im umgebenden Wasser ist natürliche Nahrung in Fülle vorhanden. Auf diesen Inseln, wo das reichhaltige Angebot der Natur den Kampf ums Dasein relativ leicht macht, leben die Tiwi mit etwa 1000 Stammesangehörigen. Bis zum Beginn unseres Jahrhunderts hatten sie kaum Kontakt mit den Stämmen auf dem Festland und bewohnten die Inseln allein und in eng verbundener Gemeinschaft. Heute leben dort auch einige weiße Missionare und Regierungsvertreter. Neben vielen Kulturgütern, die sie mit anderen australischen Stämmen teilen, haben die Tiwi auch einige auf dem Festland unbekannte Formen entwickelt.
Obwohl das Leben der Tiwi infolge des westlichen Einflusses in jüngster Zeit viele Veränderungen erfahren hat, behielt das Heiratssystem seine zentrale Bedeutung. Eine Tiwi-Frau ist praktisch immer verheiratet, von der Geburt — ja schon vor ihrer Geburt — bis zum Tode. Wenn ein Mädchen die Pubertät erreicht, werden ihre — noch nicht geborenen — Töchter einem Mann versprochen, der so der Schwiegersohn der Mutter seiner versprochenen Frauen wird. Dieser Mann wird schon erwachsen sein, vielleicht 25 oder 30 Jahre alt, wenn seine Frauen geboren werden. Daraus folgt, daß eine Frau schon sehr jung verwitwet, worauf sie sofort wieder verheiratet wird, häufig mit einem gleichaltrigen Mann, manchmal aber auch mit einem viel jüngeren.
Die Tiwi glauben, daß die Schwangerschaft nicht nur durch den Geschlechtsverkehr verursacht wird, sondern auch durch ein »Geisterkind«, das von dem Vater »gefunden« und von ihm der Mutter (also seiner Frau) übergeben wird. Eine Frau muß nach Auffassung der Tiwi immer verheiratet sein, denn ein Kind kann nur geboren werden, wenn es durch den Mann seiner Mutter gefunden worden ist. Es kommt vor,- daß Tiwi-Frauen auch aus Beziehungen mit jüngeren Liebhabern Kinder bekommen; auch diese stammen nach ihrer Vorstellung von den betagten Ehemännern, den »wahren Vätern« der Geisterkinder, und sind von ihnen gesandt worden.
Die Frauen besorgten in der Vergangenheit das Sammeln der Nahrung und das Jagen von Kleinwild; sie begründeten auch das Ansehen eines Mannes. Schon immer gab es Intrigen und Schacherei um die Sitte, Witwen wieder zu verheiraten und noch nicht geborene Frauen zu versprechen; denn es geht dabei um die Bildung einer Allianz zwischen Schwiegersohn und Schwiegermutter. Die Wahl eines Schwiegersohns für die eigene Tochter oder für sich selbst ist eine hochpolitische Angelegenheit; man wählt gewöhnlich einen vielversprechenden jungen Mann um die 30, der in den kommenden Jahren einen nützlichen und starken Verbündeten abgeben könnte; das Angebot einer Tochter (als Frau oder als Schwiegermutter) besiegelt gewöhnlich das Bündnis.
Wie bei uns hat auch bei den Tiwi oft derjenige, der schon am meisten besitzt, den größten Erfolg. Während es für einen jungen Mann häufig sehr schwer ist, seine erste Frau zu finden, wird es für ihn leichter, weitere zu gewinnen, wenn er sich erst einmal zwei oder drei gesichert hat. Während so einige Männer in der Vergangenheit bis 20 Frauen hatten, konnten andere gar keine bekommen. Die Frauen sind nämlich zahlenmäßig nicht viel stärker vertreten als die Männer. Eine Frau kann während ihrer Lebenszeit sehr wohl mehrmals verheiratet sein; ein Mann hat zwar mehrere Frauen zugleich, heiratet aber viel später im Leben.
Dieses Heiratssystem gab den Frauen große Sicherheit. Ihr erster Mann wurde zwar ohne ihr Zutun ausgewählt; wenn die Zeit der Wiederverheiratung kam, hatte eine Witwe doch oft durch ihre Verwandten Einfluß auf die Wahl des neuen Gatten.
Heute ändert sich dieses traditionelle Heiratssystem unter christlichem Einfluß. Nur wenige Männer teilen ihr Haus noch mit mehr als einer Frau. Ehen, in die beide oft gleichaltrigen Partner einwilligen, werden durch die Missionierung immer häufiger. In manchen Fällen willigt das Mädchen offiziell in eine Heirat, die in Wirklichkeit von ihren Verwandten auf die traditionelle Art arrangiert wurde, oder sie holt erst die Zustimmung ihres »vorbestimmten« Gatten ein, ehe sie sich mit einem Mann ihrer eigenen Wahl verheiratet.
Infolge neugeschaffener Arbeitsmöglichkeiten in der Holzwirtschaft und wegen der Schulungsmöglichkeiten für die Kinder haben die Tiwi ihr nomadisches Jäger- und Sammlerleben aufgegeben und sind an drei Orten seßhaft geworden, um die katholische Mission auf Bathurst und um die beiden Verwaltungsstellen auf Melville. Hier haben sich die Tiwi dauerhafte Häuser gebaut, und sie erhalten hier Konserven und Lebensmittel. Gelegentlich streifen sie aber auch noch durch den Busch, um sich frische Nahrung zu beschaffen; dann kehren sie wieder zu ihren alten Lebensformen zurück; die Männer fangen Fische und Krokodile, die Frauen sammeln Yams und Wildfrüchte, beide zusammen jagen Wallabies, Eidechsen, andere kleine Landbeuteltiere und suchen Krabben, Schildkröteneier und Austern.
Die einzige Kleidung des Stammes bestand aus Penisscheiden für die Männer und rauhen Rindenschürzen für die Frauen; ansonsten gingen sie nackt. Heute tragen die meisten Männer Lendenschurze oder Hosen und die Frauen Röcke aus gekauftem Stoff. Viele junge Tiwi-Männer arbeiten jetzt in Darwin, während die älteren selbstgefertigte Holzgegenstände verkaufen. Das bringt dem Stamm Geld ein, so daß man eiserne Äxte und Messer, Nahrung und Tabak, Kleidung und manchmal Luxusgegenstände wie Spiegel oder Teller kaufen kann. Tiwi-Holzschnitzereien von hoher künstlerischer Qualität finden sich in den größten australischen Museen.
Obwohl in letzter Zeit viele Veränderungen eingetreten sind, finden die Tiwi noch Zeit, ihre traditionellen religiösen Zeremonien durchzuführen, besonders beim Tod eines Stammesgenossen oder am Ende der Regenzeit, wenn die »Zeit der Fülle« beginnt; das war der Tradition nach die Zeit, in der die jungen Männer und Mädchen die kunstvollen Kulama-Yam-Rituale lernten und damit in das Leben der Erwachsenen aufgenommen wurden. Diese Zeremonie wird heute nicht mehr häufig durchgeführt. Die Bestattungszeremonie umfaßt viele Rituale. Die Trauerfeier (das pukimani) findet erst Wochen oder sogar Monate nach der Beerdigung statt. Bis dahin befinden sich die nahen Verwandten in einem Tabu-Zustand; sie müssen untätig bleiben und dürfen nur die kunstvoll geschnitzten Zeremonial- speere und bemalten Rindenkörbe anfertigen. Andere bereiten in der Zwischenzeit Grabpfosten und richten die Begräbnisfläche für die zweitägige Feier her. Die Grabpfosten sind kunstvoll geschnitzt und bunt bemalt und können 4,50 Meter bis 6 Meter hoch sein. Für einen bedeutenden Tiwi werden mindestens fünf, zuweilen bis 20 solcher Pfosten hergestellt. Wenn die Pfosten fertig sind, beginnt die zweitägige Zeremonie. Die Trauernden bemalen ihre Körper mit farbigen Mustern, sie führen rituelle, stark improvisierende Tänze um die Grabstelle und die Pfosten auf und singen traditionelle und neue Trauerlieder; schließlich ist der Geist des Toten zufriedengestellt, und das pukimani endet; die Trauernden verabschieden sich von seinem Geist und bitten ihn, nicht mehr in ihr Leben einzugreifen.
Bei der Vorbereitung zu einer Trauerzeremonie, einem wichtigen Ritual der Tiwi, bemalt ein älterer Mann sein Gesicht mit weißem Lehm - er benutzt dabei einen Spiegel aus einer sehr fernen Kultur.
de, oder sie holt erst die Zustimmung ihres »vorbestimmten« Gatten ein, ehe sie sich mit einem Mann ihrer eigenen Wahl verheiratet.
Infolge neugeschaffener Arbeitsmöglichkeiten in der Holzwirtschaft und wegen der Schulungsmöglichkeiten für die Kinder haben die Tiwi ihr nomadisches Jäger- und Sammlerleben aufgegeben und sind an drei Orten seßhaft geworden, um die katholische Mission auf Bathurst und um die beiden Verwaltungsstellen auf Melville. Hier haben sich die Tiwi dauerhafte Häuser gebaut, und sie erhalten hier Konserven und Lebensmittel. Gelegentlich streifen sie aber auch noch durch den Busch, um sich frische Nahrung zu beschaffen; dann kehren sie wieder zu ihren alten Lebensformen zurück; die Männer fangen Fische und Krokodile, die Frauen sammeln Yams und Wildfrüchte, beide zusammen jagen Wallabies, Eidechsen, andere kleine Landbeuteltiere und suchen Krabben, Schildkröteneier und Austern.
Die einzige Kleidung des Stammes bestand aus Penisscheiden für die Männer und rauhen Rindenschürzen für die Frauen; ansonsten gingen sie nackt. Heute tragen die meisten Männer Lendenschurze oder Hosen und die Frauen Röcke aus gekauftem Stoff. Viele junge Tiwi-Männer arbeiten jetzt in Darwin, während die älteren selbstgefertigte Holzgegenstände verkaufen. Das bringt dem Stamm Geld ein, so daß man eiserne Äxte und Messer, Nahrung und Tabak, Kleidung und manchmal Luxusgegenstände wie Spiegel oder Teller kaufen kann. Tiwi-Holzschnitzereien von hoher künstlerischer Qualität finden sich in den größten australischen Museen.
Obwohl in letzter Zeit viele Veränderungen eingetreten sind, finden die Tiwi noch Zeit, ihre traditionellen religiösen Zeremonien durchzuführen, besonders beim Tod eines Stammesgenossen oder am Ende der Regenzeit, wenn die »Zeit der Fülle« beginnt; das war der Tradition nach die Zeit, in der die jungen Männer und Mädchen die kunstvollen Kulama-Yam-Rituale lernten und damit in das Leben der Erwachsenen aufgenommen wurden. Diese Zeremonie wird heute nicht mehr häufig durchgeführt. Die Bestattungszeremonie umfaßt viele Rituale. Die Trauerfeier (das pukimani) findet erst Wochen oder sogar Monate nach der Beerdigung statt. Bis dahin befinden sich die nahen Verwandten in einem Tabu-Zustand; sie müssen untätig bleiben und dürfen nur die kunstvoll geschnitzten Zeremonial- speere und bemalten Rindenkörbe anfertigen. Andere bereiten in der Zwischenzeit Grabpfosten und richten die Begräbnisfläche für die zweitägige Feier her. Die Grabpfosten sind kunstvoll geschnitzt und bunt bemalt und können 4,50 Meter bis 6 Meter hoch sein. Für einen bedeutenden Tiwi werden mindestens fünf, zuweilen bis 20 solcher Pfosten hergestellt. Wenn die Pfosten fertig sind, beginnt die zweitägige Zeremonie. Die Trauernden bemalen ihre Körper mit farbigen Mustern, sie führen rituelle, stark improvisierende Tänze um die Grabstelle und die Pfosten auf und singen traditionelle und neue Trauerlieder; schließlich ist der Geist des Toten zufriedengestellt, und das pukimani endet; die Trauernden verabschieden sich von seinem Geist und bitten ihn, nicht mehr in ihr Leben einzugreifen.